52. Kapitel
Der Mensch achte sich nicht des Trostes würdig, sondern eher der Züchtigung schuldig.

[172] 1. Der Mensch: Mein Herr, ich bin deines Trostes, deiner geistlichen Heimsuchung nicht wert! Und wenn du mich noch so lang in meinem Elend ohne Trost schmachten ließest, so müßte ich doch bekennen, daß du gerecht handelst. Denn könnte ich auch Tränen der Reue vergießen, so viel als Wassertropfen im Weltmeere sind, so wäre ich doch noch deiner Tröstung unwert. Geißel und Strafe, das ist es eigentlich, was ich verdient habe, weil ich dich so oft und undankbar beleidigt, viele und schreckliche Fehltritte getan habe.

Wenn ich also die ruhige Vernunft entscheiden lasse, so darf ich mich nicht des geringsten Trostes würdig achten. Aber du, mein Gott, reich an Güte und Erbarmung, du willst ja nicht, daß die Werke deiner Hände zugrunde gehen sollen; du willst vielmehr den ganzen Reichtum deiner Güte an uns Sündern, an so vielen Gefäßen deiner Barmherzigkeit, offenbar machen; und deswegen sendest du deinem Knechte ohne all sein Verdienst und über alle Begriffe des menschlichen Verstandes Trost und Erquickung in sein Herz. Wenn du eine Seele tröstest, so ist das ja etwas anderes, als wenn Menschen mit Menschenworten einander trösten.

2. Herr, was habe ich denn zuwege gebracht, daß du mir himmlischen Trost in die Seele legtest? Ich weiß nichts Gutes, das ich getan hätte; ich weiß vielmehr, daß ich von jeher geneigt zum Bösen und träge zum Guten war. So ist es, und ich kann die Wahrheit nicht leugnen. Käme auch ein anderes Wort aus meinem Munde, so stündest du wider mich auf, und ich hätte niemand, der mich verteidigte. Was habe ich für alle meine Sünden anderes verdient als die Hölle, und das ewige Feuer? Wahrhaftig, ich bekenne es, daß ich nichts als Schmach und Hohn verdient habe, und daß ich nicht wert bin, unter den Frommen erwähnt zu werden. Und ob[172] ich es gleich nicht hören mag, so muß ich doch wider mich und für die Wahrheit mich wegen meiner Sünden anklagen, damit ich bei dir desto leichter Gnade und Erbarmung finde.

3. Was soll ich sagen, ich, voll Schuld und Schmach? Ich finde kein Wort als dies einzige: Gesündigt, Herr, gesündigt habe ich; erbarme dich meiner, verzeih mir! Laß mich eine Weile, laß mich über mein Elend klagen, ehe man mich hineinlegt in das finstere Grab, bedeckt mit Todesschatten. Was forderst du denn von einem Sünder, der nichts als Schuld und Elend in sich hat? Das forderst du vor allem, daß er mit zerschlagenem Herzen und voll Reue sich vor dir um seiner Sünden willen erniedrigt, tief vor dir beugt. In dieser wahren Zerknirschung, in dieser Herzens-Reue wird die Hoffnung der Sündenvergebung geboren, wird das zerrüttete Gewissen wieder ausgesöhnt, wird die verlorene Gnade wieder gefunden, wird das Geschöpf vor dem kommenden Gericht in Schutz genommen. Da begegnen Gott und die reuige Seele einander im heiligen Kusse.

4. Diese demütige Herzensreue des Sünders ist dir, Herr, ein angenehmes Opfer, ein Wohlgeruch, lieblicher als aller Duft des brennenden Weihrauchs. Diese Herzensreue ist die willkommene Salbe, die einst eine Sünderin (Luk. 7, 38) über deine Füße ausgießen durfte, weil du ein demütiges und reuevolles Herz niemals verachtet hast. Im demütigen und reuevollen Herzen ist die Stätte der Zuflucht vor dem Grimme deines Feindes. Hier wird wieder ergänzt, hier abgewaschen, was die Sünde zerrüttet und befleckt hatte.

Quelle:
Reclams Universal-Bibliothek Nr. 7663, Stuttgart., S. 172-173.
Lizenz:
Kategorien: