Das Rosengärtchen am Kirchhofe

[181] Auf dem Rückwege mußten wir ziemlich eilen, denn es zog ein starkes Gewitter am Himmel auf. Matthias schleppte mich durch enge Gängchen zwischen zwei Kirchhöfen hindurch, aus deren einem ein hohes Kreuz von Stein ragte, an das vom Sturme hin und her getriebene Trauerweiden schlugen. In seiner Nähe außer der Mauer setzte ich mich schlaftrunken auf einen Stein. Matthias fürchtete sich vor Gewittern und sagte im Scherze, er wolle mich da sitzen lassen; das brachte mich wieder auf die Beine. Wir waren an einem Gartentore vorübergegangen, über dasselbe war eine Rose, der die Blätter abfielen, eingegraben, und unten waren in lateinischer Sprache die Worte eingehauen: »Schaue mich an und denke dein!« In spätern Zeiten wurden diese Kirchhöfe vereinigt und es verschwanden die Gängchen zwischen ihnen. Dagegen sah man an ihrem Ende ein gar liebes Gärtchen, das ein Blumenfreund angelegt und vorzüglich mit Rosen aller Art bepflanzt hatte. Der Flieder an der Kirchhofmauer und die Rosen des Gärtchens[181] an ihr bogen ihre Häupter zu einander. Mitten im Gärtchen aber, versenkt unter den Rosen, war ein Bauer, in dem immer eine Amsel die Melodie sang: »Pflücket die Rosen, eh' sie verblühn!« – Ich hörte manchmal, wie die Melodie dieses Vogels sich mit dem Trauergesange über der Mauer vermischte.

Unter Blitzen, Donnerschlägen und strömendem Regen kehrten wir wieder zu den Frauen zurück.

Quelle:
Justinus Kerner: Bilderbuch aus meiner Knabenzeit. Frankfurt a. M. 1978, S. 181-182.
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