[248] Ein Werklein, dessen Verlust ich mehr bedaure, und das in jener Zeit auch während des Nähens und Musterkartenmachens ausgebrütet wurde, war in gereimten Versen, ein Gemälde von mehrern Originalen, die damals die weiten Straßen Ludwigsburgs durchwandelten.
Zu jener Zeit sah man in Ludwigsburg immer Vormittags gegen 10 Uhr einen ungeheuer dicken unbeholfenen Mann, der in der Mitte der weiten Poststraße mehr gerutscht, als gegangen kam, und sich schmunzelnd links nach dem Gasthof zum Bären wandte, wo er vor dem Mittagsessen jedesmal ein Voressen von einem halben Kalbsschlegel oder einer Platte voll Würste hielt und das gehörige Quantum Wein oder Bier dazu durch den Schlund hinabgoß. Dies war der wegen seines Magens sehr bekannte Brunnenmacher Kämpf von Ludwigsburg, der auch in meinen Reiseschatten eine Stelle fand. Oft schoß an ihm, bis er das Ende der Straße und die Ecke, wo er sich zum Gasthof zum Bären umbog, erreichte, drei bis viermal in die Quere ein lichter Sonnenfaden vorüber, in welchem man bei näherer Betrachtung einen ganz dürren, schlanken, lang gezogenen Menschen in einem eng anliegenden weißen gestrickten Wämschen, an welches zugleich auch die langen weißen[248] Beinkleider samt den Strümpfen angestrickt waren, erkannte. Es war dies der durch die Gassen von einem Hause in das andere pfeilschnell schießende Perückenmacher Fribolin.
Dieselbe Gasse konnte man jedesmal Schlag 2 Uhr einen andern Mann kommen sehen. Dieser war von vornehmerem Stande, mager, hochgestreckt mit dem Oberleib, in den Füßen etwas gebogen. Er hatte einen französischen Haarzopf und Toupet, silbergrauen Frack, gelbe lederne Beinkleider, Reitstiefel und Sporen an und trug in der einen Hand ein fischbeinernes Reitgertchen. Er hatte ganz die Stellung eines auf dem Pferde sitzenden schulgerechten Reiters, machte auch im Gehen, das bald schneller, bald langsamer war, ganz die Bewegung eines Reitenden, während er oft vor sich hinsprach: fort! fort! Schweißfuchs!
Es war das ein gewisser Stiftungspfleger, den man in früheren Jahren um die gleiche Zeit hier einst diese Straße fast jede Woche auf einem andern, abenteuerlichen Pferde reiten sah, der aber durch diesen öfteren Pferdewechsel im Vermögen sehr herunter kam, etwas irre wurde, das Spazierenreiten aber zur gewohnten Stunde auch ohne Pferd nicht mehr lassen konnte.
Nicht weit vom Gasthof zum Bären bemerkte man ein anderes Original, das dort sein eigenes Haus hatte. Dies Haus war daran zu erkennen, daß sich in seinem Hofe eine Miststätte befand, von solchem Alter und solcher Höhe, daß sie über das Dach des Hauses ragte. Der Inhaber hatte sie mit aller Mühe gesammelt und gebauet und pflegte ihrer mit der größten Sorgfalt. Nie durfte etwas von ihr weggenommen werden. Obgleich begütert, ohne Frau und Kinder, sah man ihn, einen kleinen magern alten Mann, in einem abgeschabten roten Rock mit verwitterten goldenen Borden, einem roten struppigen hinten in einen Haarbeutel gebundenen Haare,[249] einen runden Korb in der Hand auf der Straße hinter den Pferden hergehen und ihren Mist zu seinem Baue sammeln. War er nicht mit dieser Arbeit beschäftigt, so zeigte er sich in den Gasthöfen, drängte sich mit großer Unverschämtheit an alle Fremde und sprach von den herrlichen vergangenen Bratenszeiten unter Karl Herzog. (Ein echter Ludwigsburger sagt nie: Herzog Karl, sondern immer: Karl Herzog, wie sein Titel anfing: Karl Herzog zu Württemberg usw.) Er schimpfte frei in den buntesten Redensarten über alles, was nicht von »Karl Herzog« stammte, erzählte die skandalösesten Geschichten alter Zeit wie Tugenden und gebärdete sich oftmals auf das schamloseste. Man hieß ihn den »Jakobele«. Er soll zu jenen Bratenszeiten am Hofe die Stelle eines Hofnarren und in der Stadt die eines Spionen gespielt haben, und er war nun bei seinem Mistbaue, zu dem er verdammt zu sein schien, ein wahres Bild aus dem Hades.
Ging man einmal zufällig um Mitternacht noch durch die Schorndorfer Straße, die gegen Oßweil zum Kirchhofe an meiner Fabrik vorbeiführte, so konnte man manchmal einem kleinen abgezehrten totenbleichen Männlein begegnen, das ein schwarzes zerrissenes Mäntelchen umgeworfen hatte, unter dem es einen Pack Papier und Faßreife trug; auch hatte es einen Spaten auf der Schulter und eine Laterne in der Hand. Es war der damalige Totengräber, der dem Kirchhofe zuging. Dieser Mann legte sich nämlich schon seit Jahren auf die Kunst, das Fliegen zu erfinden, und arbeitete oft nächtlich ungestört im Totenhause bei der Laterne an einer Flugmaschine, die aber nie zustande kam. Daß er das Fliegen dennoch erfunden habe und fliegen könne, wurde ihm später zur fixen Idee. Er behauptete fest, er sei vom Kirchhof aus öfters in der Nacht nach Neckarweihingen, mit der Laterne in der Hand, geflogen. Der Flug über den Neckar habe ihn stets sehr angestrengt, denn da[250] habe ihn das Wasser immer so angezogen. Ich sagte zu ihm: er werde wohl nur geträumt haben, daß er so fliegen könne, und wachend es glauben; da versetzte er: o nein, er habe zwar auch schon geträumt, er fliege; aber da habe er immer den Tag über Kummer gehabt.
Fliegen im Traume bedeute nicht, daß Kummer komme, sondern man habe Kummer, wenn man im Traume fliege. Diese Beobachtung erwies sich mir in meinem nachherigen Leben als sehr wahr. Er wurde durch seine Flugversuche arm, irre und starb im Elend. Er gab mir Veranlassung zu meinem Spiele: »Der Totengräber von Feldberg« in den Reiseschatten. Das Männlein hieß Hartmayer; man nannte es aber Flugmayer.
Außer den hier angeführten Originalen gab es damals in Ludwigsburg noch manche andere; aber sie stehen mir nicht mehr so hell im Gedächtnis, wie jene.
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