Erste kindliche Naturforschung

[167] Der Lehrer hatte uns auch Unterricht in der Botanik erteilt und suchte auf solchen Wanderungen unsere Kenntnisse zu erweitern; aber ich konnte lange solchen Namensbestimmungen und Einregistrierungen der Blüten und Kräuter keinen Geschmack abgewinnen, und mir waren die Blumen, deren Namen ich nicht kannte, viel wunderbarer und lieber, als solche, denen ich durch ihr Zergliedern und Zählen der Staubfäden einen Namen zu geben wußte, der mir ihr Wesen doch nicht bezeichnete. Ich gab den gesammelten Kräutern am liebsten Namen nach eigener Wahl, meistens nach mir bekannten Menschen. Der kurze Professor Maier, seine schneeweiße Theresia, der komische Kutscher Matthias, der steife Prälat Mieg und seine Gattin mit dem Eulenkopfe, der grimmige Präzeptor Braun mit seinen Söhnen und Töchtern usw. fanden sich in meiner botanischen Sammlung je nach ihren Charakteren als Pflanzen verzeichnet, und selbst als Student in Kielmayers Vorlesungen, ja sogar im Examen, verwechselte ich noch manche dieser von mir geschaffenen Benennungen der Pflanzen mit denen, die ihnen Linné schuf.

Käfer und Schmetterlinge fing ich nie zu toten Sammlungen; sie waren mir nur ihrer Verwandlung wegen merkwürdig. Diese beobachtete ich genau, wodurch schon früh mir die Ahnung wurde, daß, wie zwischen der Raupe und dem Schmetterling noch ein Mittelzustand, der der Puppe liegt, dieses auch bei den Menschen nach dem Tode der Fall sein werde. Aus dieser Naturanschauung ging hauptsächlich der später von mir verteidigte Glaube eines Mittelreichs hervor, eines Zustandes, in dem der Mensch sich selbst anheimgestellt, wie die Raupe die Flügel zum Schmetterling, die Flügel einer[168] höhern Psyche erst entwickelt und zu solcher reif wird. – Aber auch das Unerbittliche (ich möchte sagen die Grausamkeit) der Natur lernte ich früh mit Trauer erkennen, als ich einen Käfer sah, der zufällig auf den Rücken gefallen war und sich nun nicht mehr auf die Beine bringen konnte, und den in dieser hülflosen Lage noch am Leben Ameisen aushöhlten. Der fiel mir als Arzt nachher oft bei armen hart leidenden Menschen ein.

Naturhistorische Schriften und Reisebeschreibungen wurden in den Stunden, die nicht für Erlernung der alten Sprachen bestimmt waren, auch hier mit Lust und Liebe gelesen, namentlich Bonnets, Bertuchs, Hallers Werke, ferner die Reisebeschreibungen von Campe, und das Entzücken aller Kinder – sein Robinson. Das Vergnügen, das mir damals das erste Lesen dieses Buches machte, hat bis auf den heutigen Tag das Lesen eines andern Buches noch nicht über stiegen. Neben diesem Buche standen Tausend und eine Nacht, Musäus Volksmärchen und all die alten Volksbücher, Heymonskinder, Magelone, Siegfried usw., die die Reutlinger Buchhändler auf den Jahrmarkt in das Städtchen sandten.

Quelle:
Justinus Kerner: Bilderbuch aus meiner Knabenzeit. Frankfurt a. M. 1978, S. 167-169.
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