Mein Aufenthalt in Knittlingen

[152] Die Stille des Klosters wurde nun oftmals durch Töne unterbrochen, die in seinen Mauern wohl schon lange nicht mehr gehört wurden. Geschütze und Pontons zogen ganze Nächte lang auf der Straße vor dem Kloster vorüber, an den benachbarten Rhein; und bald ertönte von daher der Donner österreichischer und französischer Kanonen. Bald sprach man von Siegen der Franken, bald von denen der österreichischen Truppen.

Die Gefahr feindlichen Einbruches schien nahe zu sein, doch ging sie wieder auf kurze Zeit vorüber.

Mein Vater erkannte wohl, daß in Maulbronn mein Unterricht zu vielen Unterbrechungen ausgesetzt war, und daß – würde ich von all den Zerstreuungen im Hause entfernt und einem einzelnen Manne zur steten Beaufsichtigung übergeben, – daraus mehr Gewinn für mein Wissen und meine Erziehung erwachsen würde. In dem zwei Stunden von Maulbronn entfernten Knittlingen (eben dem Geburtsorte Fausts) befand sich damals ein lateinischer Lehrer (Präzeptor), Namens Braun. Er war in dem Rufe eines guten Lateiners und strengen Erziehers, wenigstens seiner eigenen Kinder.

Ich mußte dahin.

Mit großer Trauer schied ich von meinen Blumen und meinen Tieren; doch wurde mir das Versprechen gemacht, ich dürfe jeden Samstag über den Sonntag wiederkehren, wozu Matthias mir die Rappen bringe.

Letzterer versprach mir auch für meine Tiere zu sorgen, meine Schwester für meine Blumen, und meine Mutter versicherte mich, was sie auch treulich hielt, mir so oft als möglich Schachteln voll Obst zu senden.

Das Haus des Präzeptors zu Knittlingen hatte, hinter einer Kirche versteckt, eine sehr fatale Lage. Es war kein[153] freier Platz vor ihm, wie vor dem Hause zu Maulbronn; und statt des schönen lebendigen Brunnens war vor ihm eine Miststätte, wegen welcher der Präzeptor mit seinem Nachbar, dem Schulmeister, immer im Streite lag.

Der Präzeptor war ein langer, hagerer Mann, mit ganz schneller, fast stotternder Aussprache.

Aus Rücksichten für meinen Vater, und aus Furcht, ich möchte ihm nicht lange gut tun, war er zwar gegen mich nicht heftig, aber gegen seine Kinder, und namentlich gegen seine 3 Knaben, die so ziemlich in meinem Alter waren, so strenge und tyrannisch, daß er sie bei den kleinsten Vergehen barbarisch schlug, ja sie oft noch dabei auf den Boden warf und mit den Füßen auf ihnen herumtrappte. Dieses Schicksal traf besonders oft seinen 2. Sohn, Namens Gottlieb, der in spätern Jahren in Karlsruhe der Verleger meiner ersten Schriften, meiner Reiseschatten, meines Musenalmanachs, der Geschichte zweier Somnambulen und noch anderer Schriften von mir wurde.

Dieser hatte den gutmütigsten Charakter von allen, sah aber immer kränklich aus, wogegen der ältere, Friedrich, wie das Leben blühte. Diesen, mehrere Jahre älter als ich, traf ich später in der Tuchfabrik zu Ludwigsburg wieder. Er hatte sich in sieben Sprachen geübt, machte als Kaufmann eine schöne Laufbahn, auch durch gute Verheiratung, ergab sich aber dem Trunke und endete sehr elend, wogegen Gottlieb bis zu seinem Tode die Stütze der übrigen Geschwister blieb.

Unter diesen befand sich ein damals noch kleines Mädchen, das, zur Jungfrau herangereift, eine der größten weiblichen Schönheiten wurde. Auf eine bedauernswürdige Weise wurde sie an einen als Kaufmann auf den Messen herumziehenden Italiener verheiratet, bei dem sie ein höchst trauriges Los traf. Sie erkrankte und wurde geschieden; da nahm sie der Bruder Gottlieb, jetzt Buchhändler[154] in Karlsruhe, auf. Hier lernte sie der Dichter Ludwig Robert, Rahels Bruder, kennen, und nahm sie, von ihrer Schönheit bezwungen, zur Gattin. Er und sie starben bald nach einander. – Varnhagen stiftete ihr in seinen Biographien ein schönes Monument, und Heine dichtete auf sie mehrere Sonette, in denen er sie aufrief, aus dem Sande von Berlin nach Indien zu ziehen, und gewiß, sie war eine wahrhaft indische Schönheit, eine Sakontala.

Die Mutter war eine sanfte und gutmütige Frau, hatte aber durch den schweren Haushalt und den Jähzorn ihres Mannes viel zu ertragen. Ihre Sorge für mich war mütterlich.

Die Veränderung, die ich hier gegen mein voriges Leben fand, war der Art, daß mich wohl ein starkes Heimweh hätte ergreifen können, was aber doch nicht der Fall war. Wo die Jugend nur wieder in ihrer Phantasie sich mit etwas Neuem beschäftigen kann, da ist sie schon zufrieden.

Meine neue Ausstattung in Kleidern, Waschgeräte, einem Koffer, einem Stiefelzieher, war aller Trost und Ersatz, und ich fühle, – denke ich diesem Stiefelzieher nach, – jetzt noch im Alter, ein Wohltun um die Herzgrube herum, das ich damals durch ihn gefühlt haben muß.

Die Freude auf den Tag, an dem der Bote mit der mütterlichen Schachtel ankam, das Rechnen und das Sichfreuen auf den Samstag, wo der alte Matthias mit den Rappen erschien und der Ritt ins Kloster angetreten wurde, ließ kein eigentliches Heimweh aufkommen, wurde auch dadurch die Sehnsucht nach der Heimat nicht unterdrückt.

Der Unterricht in der lateinischen und in der griechischen Sprache war nun allerdings geregelter, und die älteren Söhne des Präzeptors hatten schon schöne Fortschritte gemacht, denen ich nacheiferte.[155]

Der Religionsunterricht bestand leider meistens nur im Lesen und in abenteuerlicher Erklärung der Offenbarung Johannis und begann meistens mit der Warnung: »Buben! wenn ihr euch nicht vor dem Namen Jesu beugt, so oft dieser Name vorkommt, so schlag ich euch den Stecken um die Füße herum.«

Auf eine schöne Handschrift sah der neue Lehrer besonders. Die seiner Söhne war sehr schön. Sie schrieben in den verschiedensten Formen von Buchstaben, und selbst in großer Mönchsschrift mit Farben.

Die Zubereitung solcher farbigen Dinten, meistens vegetabilische Säfte, führte uns zur Sammlung von Blättern, Blüten und Beeren in Felder und Wälder.

Der Durchzug österreichischer Truppen und das Gespräch Älterer vom Kriege brachte uns auf kriegerische Spiele mit den anderen Knaben des Städtchens, bei welchen ich als ehemaliger Kommandant der kleinen Landmiliz von Ludwigsburg meistens die Hauptrolle spielte.

Der Sturm des Krieges brach aber nun immer ernster und näher herein. Die Franzosen waren mit großer Heeresmacht über den Rhein gebrochen und näherten sich der Pfalz und der württembergschen Grenze. Tag und Nacht ertönte Kanonendonner.

Quelle:
Justinus Kerner: Bilderbuch aus meiner Knabenzeit. Frankfurt a. M. 1978, S. 152-156.
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