Zwölftes Kapitel.

[31] Sililie war nach dem Tode des Alten in große Stille versunken. Es schien ihr in den Gebirgen immer unheimischer zu werden. Sie verlangte laut bald nach Serpentin, bald nach dem Alten und setzte sich auch oft stundenlang in des einen oder des andern verlassenes Gemach. Eines Abends sank sie neben Lambert bleich auf einen Sitz zurück. »Sililie! ich glaube, du bist krank« sprach Lambert. »Mich friert«, sprach Sililie. »Komm, lege dich auf dein Lager nieder,« sprach Lambert, »ich will dir einen Trank bereiten.«

Lambert erkannte, daß das Mädchen von einem Fieber befallen worden, das jede Stunde, der kräftigsten Heilmittel ungeachtet, zuzunehmen schien.

Am siebenten Tage der Krankheit sprach sie: »Meister! hört Ihr die helle Flöte von Kristall?« Von da an verfiel sie in einen langen Schlummer. Lambert hoffte mit banger Erwartung noch das Beste.

Sie schien ihm wiedererwacht, und es war ihm, als ob sie ganz fröhlich sei und lache, er wußte nicht, durch welche Süßigkeit. Er trat näher zu ihr und fragte sie, warum sie so holdselig lache.

»Ich sah«, sprach sie, »einen Ort, der mit schönem und hellem Lichte angefüllt ist.«

»Sei gutes Mutes, meine liebe Tochter,« sprach Lambert, »du wirst in diesem schönen Lichte wohnen.« Sie lächelte wieder und nickte mit dem Haupte, und ein wenig hernach sprach sie: »Ich bin ganz fröhlich.«

Mehr hat sie darauf nicht geredet; außer da schon ihre Augen dunkel wurden, sprach sie: »Ich kenne Euch fast nicht mehr, denn alles andre scheint mir voll heller Rosen zu sein«, – und dieses ist ihre letzte Rede gewesen.

Bor dem Waldhause in einem kleinen Garten hat ihr Lambert mit eigner Hand ein Grab bereitet und hat es mit hellen, warmen Tränen benetzt. Ein Felsstück, das mit Bergkristallen[31] von ungemeiner Klarheit und Größe bewachsen war, hatte er auf die Stätte gewälzt.

Aus den Zwischenräumen der Kristalle sproßten bald Alprosen empor und verbreiteten im Glanze der Kristalle, ein jugendlich Morgenrot über die Stätte.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 2, Berlin 1914, S. 31-32.
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