Vierzehntes Kapitel.

[33] Serpentin lag im einsamen Gemache des Schlosses auf seinem Lager schwer erkrankt. Es war drei Stunden nach Mitternacht, da trat seine Mutter in verklärter Hellheit vor ihn. Sie stand auf einem Grunde von brennenden Rosen, eine doppelte Glorie umfing ihr Haupt; in ihren Armen hielt sie Sililie, ein Kind in holder Klarheit. Ihr Schein warf eine wonnige Wärme auf ihn, wie die des mildesten Himmels. Alles außer ihr und dem klaren Rosenschimmer war ein dunkelblauer Himmel. Es war ihm, als läge er, ein Kind, zu ihren Füßen und sähe, in die Hellheit hin.

Wie aus der weitesten Ferne vernahm er jetzt den Klang einer Harfe. Es war Luchs, der unruhige Wanderer. Dieser hatte, als ihm noch alles zu schlummern schien, seinen Reisebündel zusammengepackt und mit dem kleinen Mädchen, das ihm die Harfe trug, daß Schloß verlassen. Auf dem höchsten Gipfel eines noch über das Schloß ragenden nahen Berges, dem Fenster des Gemaches, in welchem Serpentin lag, gegenüber, setzte er sich noch einmal nieder, ergriff die Harfe und sang in die Täler hin:


»Die Straßen, die ich gehe,

So oft ich um mich sehe,

Sie bleiben fremd doch mir.

Herberg', wo ich möcht' weilen,

Ich kann sie nicht ereilen.

Weit, weit ist sie von hier.


So fremd mir anzuschauen

Sind diese Städt' und Auen,

Die Burgen stumm und tot;

Doch fern Gebirge ragen,

Die meine Heimat, tragen,

Ein ewig Morgenrot.«


Ein herrlicher Morgen war aufgegangen, der Himmel stand heute wie nie voll Glut. Die Gemächer des Schlosses schienen durch ihre hohen Fenster wie in Flammen zu brennen.

Lambert warf sich noch unruhig auf seinem Lager hin und her; er war um Serpentins Leben, der schon seit einigen Tagen[33] das Bett zu hüten gezwungen war, sehr besorgt. Er erhob sich und trat leise in Serpentins Schlafgemach. Rosenrot, vom heraufsteigenden Sonnenball beschienen, lag er auf seinem Lager. Lambert trat näher zu ihm; kalt waren seine Hände, er war zur hellen Heimat übergeflogen. Unter den Harfentönen seines Bruders war er verschieden. Mit stiller Rührung überbrachte Lambert dem Grafen die Nachricht von Serpentins Tode. »Ich habe seinen Tod vorausgesehen,« sprach der Graf; »Blumen der Art halten nicht über den Sommer aus.« Lambert erzählte, wie er zu Serpentin und Sililie gekommen. »In den kurzen Augenblicken,« sprach er, »in welchen ich Luchs gesehen, fand ich so viele Ähnlichkeit mit ihm und jenem ältern Knaben, der sich damals seinen Bruder nannte, daß ich nicht zweifle, ihn als solchen bei näherer Betrachtung bestimmt zu erkennen.« – »Soviel ich höre,« sprach der Graf, »hat er sich vor Anbruch des Tages vom Schlosse entfernt. Was ich von seinem Leben weiß, ist zwar wenig; doch könnte es Eurer Mutmaßung völlig zur Stütze dienen. Luchs wurde als Knabe von vierzehn Jahren von herumziehenden Marionettenspielern nach Oberoa gebracht, wo er auf einem Theater sich nach und nach zum beliebten Schauspieler ausbildete. Er wurde aber bald wie von einer innern Unruhe von einer Stadt in die andere getrieben, wollte ungestört allein sein und handeln und fiel auf Erfindung jener Schattenspiele, die man auch chinesische Schattenspiele nennt. Mit diesen zog er, ein ewiger Wanderer, bald dahin, bald dorthin. Ich lernte ihn früher zu Oberoa kennen, und schon einigemal kehrte er auf seinen Wanderungen in meinem Schlosse ein. Zu Bremen soll er einige Jahre hindurch in einem Wirtshause, wie ein Reisender immer mit gepacktem Koffer, gewohnt haben.«

Unter solchem Gespräche waren sie in den Familiensaal getreten. Lambert betrachtete das Bild des Seemannes mit vieler Aufmerksamkeit, und je fester er es betrachtete, desto mehr schien es ihm die Züge des alten Waldvaters an sich zu tragen.

Der Graf erzählte seinem Freunde die Geschichte des Mannes, wie er sie Luchs kürzlich vor dem leeren Sarkophage erzählt.

Nun hegte Lambert keinen Zweifel mehr; die Geschichte des Waldvaters schien ihm enträtselt zu sein. Der Graf war von seinen Erzählungen überrascht, er ließ sich zu wiederholten Malen alles sagen, was er von dem alten Manne wußte, auch genau die Umstände angeben, unter denen Serpentin[34] und Sililie in das Waldgebirg gebracht wurden, und was der Knabe dazumal über ihr früheres Schicksal äußerte. Lambert stellte alles aufs genaueste zusammen: da dämmerte dem Grafen ein Licht auf, und er ahnete in jenen Fremdlingen die Urenkel seines Verwandten. »Luchs«, sprach er, »ist der einzige, der unsern Vermutungen noch nähere Bestätigung geben könnte, wer aber weiß, wohin sich der unruhige Wanderer jetzt gewendet.«

»Auch die Hülle des Alten«, sprach Lambert, »könnt Ihr noch ersehen, unversehrt noch so, wie er einst in ihr lebte. Im Waldgebirge ruht sie, bald zu Stein gewandelt, in einer Höhle von Bergkristall.« – »Laßt uns den guten Knaben erst zur Ruhe bestatten,« sprach der Graf, »und dann laßt mich mit Euch ins Waldgebirg zur Ruhestätte des Alten pilgern.«

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 2, Berlin 1914, S. 33-35.
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