1.

[106] O sel'ge Herrin! Stern aus Norden,

Der sich einst mild zu uns gewandt,

Du, die zum Liebesstern geworden

Dem hoffenden, dem armen Land.


Bist schon verschwunden, kaum gekommen,

Ein Morgen über Tal und Höhn,

Und deine Saat, des Lichts benommen,

Muß nun im Keime traurend stehn.


Wie liegt es bang auf jedem Herzen!

Wie tun es tausend Tränen kund!

Und wer da spricht, der spricht von Schmerzen,

Und wie sein Innres tödlich wund.


Wohl manchem ist's, als könnt' er scheiden

Fortan mit Lust von Herd und Haus,

Als löschten mit dir alle Freuden,

Jedwedes Licht auf einmal aus.


Ihr Glocken mit geweihtem Schalle!

Ruft durch die traurend stille Luft:

»Ihr Armen! kniet und betet alle!

Hört's! eure Mutter deckt die Gruft!


Ihr Reichen, hört's! nun ist verschwunden

Sie, euer Stolz, sie, aller Hort!

Kniet! schwört: das Band, das sie gebunden,

Ein Heiligtum, zu binden fort.«[106]


Wie Well' an Well' schlag' Zähr' an Zähre,

Wehlaut! fahr über Land und Meer,

Ruf aus: »Ihr Länder und ihr Meere!

O trauret all! Sie ist nicht mehr!«


Wie jubelt's in den Sternenhallen!

Wie flammt in Lust des Himmels Zelt!

Bei uns, wie ist es öd, zerfallen!

Wie ohne Heimat jetzt die Welt!

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 106-107.
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