Zweite Vorstellung.

[122] Ich trat heraus, es war ein herbstlicher Mittag; dünne Wolken zogen schnell am Himmel vorüber, und es verbreitete sich bald heller Schein, bald dunkler Schatten auf den Gassen, auch trieb der Wind verwelkte Blätter umher, die wie Schmetterlinge bunt in den Lüften flatterten.

Durch die Gassen aber gingen viele farbiggekleidete Mädchen, die hatten alle Blumensträuße an den Busen stecken und gingen oft da Hand in Hand und sahen sich froh an: denn es war Sonntag.

Einer aber schoß mit großer Hast durch die Straßen, der hatte eine Menge Zettel unter den Armen, die teilte er unter die Leute aus; und auf den Zetteln stand gedruckt: »Hans Flügels Schwanengesang im Walfisch«. Nun kamen mir erst die Freibillette und all meine Reisegefährten wieder in Sinn, und als ich noch nachdachte, ob alles ein Traum oder nicht, da schlug mich etwas von hintenher auf die Schulter, und als ich zurücksah, war es der weiße Mann; den Kondukteur und die Postknechte sah ich schon vorauseilen, sie hatten die Freibillette bei den Zollzeichen auf den Hüten stecken.

Der weiße Mann nahm mich insgeheim beiseite, als hätte er mir ein Geheimnis anzuvertrauen, und flüsterte mir ins Ohr: »Sagen Sie, um aller Himmel willen! keinem Menschen, was ich Ihnen jetzt sagen werde. Wir sind jetzt ganz allein; hören Sie! – Ich habe im Sinne, wenn Flügel seinen Schwanengesang geendigt, plötzlich ganz überraschend, gratis und unangekündigt aufzutreten und Schillers Glocke nebst dessen Eisenhammer zu deklamieren; ich habe zu diesem Behufe beide Stücke bereits aus den Stiefeln gepackt und auf der Post vor dem Spiegel einstudiert; sie würden etwa so lauten – –« – »Um's Himmels willen! ihr versäumt den Schwanengesang!« schrie der Kondukteur aus der Ferne. »Alles strömt zu dem Walfisch; wir bekommen keine Plätze mehr!«

»Der Mann hat recht,« versetzte der Deklamator: »zudem lautet eine Deklamation in einem verschlossenen, stillen Zimmer immer besser als in der freien Luft, allwo die Rotschwänze und Dummpfaffen drein pfeifen. Aber, siehe da! Hans Flügel! –«

Da stieg Hans Flügel eilend die Treppen des Walfisches hinauf; er war ganz schwarz gekleidet und hatte eine ungewöhnlich[122] große, weißgepuderte Frisur. Ein Lohnbedienter ging voran und trieb die Leute aus dem Wege, die alsbald in Masse hinter ihm herströmten.


Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 122-123.
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