Dritte Vorstellung.

[139] Die Sonne sank hinter die blauen Berge und warf einen feurigen Strahl in den Fluß. Schifflein mit roten Segeln schwebten wie lichte Abendwolken vorüber, fernere glichen Schwänen oder Tauben, welche durch den blauen Himmel fliegen.

Lange blickte das fremde Mädchen stillschweigend über die blaue Fläche hin, endlich sprach es: »O Meer, daß ich dir ferne weilen muß! Wie oft stand ich einst auf meiner heimischen Insel an deinem bunten Beete! Gewaltiges Sehnen zog mich, durch den Kristall der Wellen zu schauen. Da war mir, als tönten süße Stimmen zu mir herauf, die riefen mir zu: Steig hinab in unsere Lichtheit! War mir da zumut', als wäre nur da unten meine Heimat. Dann benetzt' ich mich, meine Sehnsucht zu stillen, mit Meerwasser und badete in den hellen Kristallen die langen Locken. Das Meer war meine Wiege, seine Muscheln, Steine und Korallen meine Spiele um sie, als Kind riß man mich von ihm; den Fesseln entsprungen, die mich seitdem fern von ihm banden, eil' ich ohne Aufhalt zu ihm zurück, es werde[139] mein Grab. Dann werd' ich die sehen, die mir so oft gerufen; es wird mir alles klar werden da unten, die Steine, die Blumen, die Muscheln und Fische; alle Klänge und Gestalten meiner Kindheit werden sich auftun den trunkenen Blicken.« So sprach das fremde Mädchen.

Wir kamen im Gespräch durch einen Garten, wo nebenbei ein einsames Landhaus stand.

»Dieses Haus«, sprach das Mädchen, »bewohnt schon seit vierzig Jahren eine wahnsinnige weibliche Person. Sie ist nun in ihrem siebenzigsten Jahre und soll einst eines der schönsten Mädchen von Nürnberg gewesen sein.

Vor zwanzig Jahren erwachte sie eines Tages aus ihrem Wahnsinne, berief dann all ihre Freunde zusammen, gab ihnen ein Gastmahl, nahm von ihnen Abschied und kehrte dann wieder in sich zu ihren finstern Geistern zurück. Seitdem steht der Garten sich überlassen.«

Schauerliche Stille herrschte in diesem Garten, kein Vogel sang in ihm, nur eine Ziege sah ich im hohen Grase liegen; kein Weg war mehr zu sehen, die Blumen gaben ihre Samen den Winden, die Wände des Gartenhauses waren eingefallen, die Bildsäulen in Stücken, die Springbrunnen waren versieget, die Fenster waren zersprungen, ihre Rahmen abgefault, in den Laubgängen war dunkle Nacht, und war so der ganze Garten selbst ein Bild des Wahnsinnes.

In einem der Laubgänge setzten wir uns nieder, da hat das fremde Mädchen mir den Sterbetag all meiner Freunde gesagt, sowie den Tag, an dem der oder jener geboren, und meinen Sterbetag. Schont meiner, sprach ich, indem ich sie freundlich anblickte. Da umschlang sie mich mit einem Arme; mit der Hand des andern aber fuhr sie mir dreimal sanft über die Augen her, die schlossen sich alsbald wie zum magnetischen Schlafe.

[Als ich die Augen bald wieder mit Gewalt aufschlug, da sah ich das Mädchen nicht mehr und rief ihr auch vergebens durch den weiten Garten zu. Die Nacht war da, ich stand allein in dem verlassenen Garten. Schauer ergriff mich, und eilend sprang ich durch die dunkeln Laubgänge aus dem Garten ins Freie.

Ein zahlloses Heer von Sternen ging durch den Himmel, und ich fühlte mich nicht mehr allein.

Ich dachte dem fremden Mädchen nach, und der Worte, die sie zu mir gesprochen, und so furchtbar sie auch war, so fing ich doch an, ein stilles Sehnen nach ihr zu fühlen.]


Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 139-140.
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