Fünfte Vorstellung.

[143] Die Nacht war da; ich stand allein in dem verlassenen Garten. Schauer ergriff mich, und eilend sprang ich durch die dunklen Laubgänge ins Freie. Ein zahlloses Heer von Sternen ging durch den Himmel, und ich fühlte mich nicht mehr allein. Ich dachte dem fremden Mädchen nach und der Worte, welche es zu mir gesprochen. Der Sterbetage, die es mir gesagt, konnt' ich mich durchaus nicht mehr erinnern, aber noch immer zogen jene magnetischen Traumbilder an mir licht vorüber; doch war das Mädchen mir jetzt furchtbar und unheimlich geworden.

Im Nachdenken über das Vergangene verloren, kehrte ich gegen die Stadt zurück. Endlich war ich wie aus Träumen erwacht: sonnenhell schien der Mond durch den Himmel, und ich befand mich vor einem Bilde, welches da am Wege stand, das betrachtete ich und las darunter die Worte:

»Hier hängt Jesus vor seiner gebenedeiten würdigen Mutter, die ihn mit großem Leid und bitterlichen Schmerzen beklaget und beweinet.«

Das Bild selbst stellte Christum am Kreuze hängend dar, wie er seine schmerzvolle Mutter mit liebreichen Worten zu trösten sucht.

Ich ersah, als ich weiter ging, daß ich mich an dem Werke befand, welches Martin Kätzel vor vierhundert Jahren errichtet. Dieser nämlich ist nach Jerusalem gereiset und hat allda die Weiten von verschiedenen Gegenden, wo der Herr Jesus zu seinem Tode gewandelt, von dem Hause Pilati bis an den Berg Kalvariä, sorgfältig abgemessen.

Als er nun wieder in Nürnberg angelangt, hat er befunden, daß die Blätter, worauf er die Weiten notierte, verloren[143] gegangen – da ist derselbe wieder hingereiset und hat die Abmessung mit gleichem Fleiße wiederholt, worauf er denn endlich bei seiner letzten Zurückkunft mit Zuziehung Adam Krafts, eines berühmten Bildhauers in Nürnberg, das lang gefaßte Intent erreicht.

Es stellt vor die Hinausführung Christi zur Kreuzigung; nämlich die vier Fälle auf so viel steinernen Säulen in flachen Bildern, wie sich die eigentlichen Weiten von dem Hause des Pilati bis auf die Schädelstätte ergeben, und geht von dem Tiergärtnertor bis auf den Johanniskirchhof.


Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 143-144.
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