Zweite Vorstellung.

[33] Aus Holders verwirrten Erzählungen brachten wir endlich so viel heraus, daß er sich in Nehrendorf von uns verloren und ihn dort wahrscheinlich einige mutwillige Leute überredeten, dem Postwagen auf dem alten Judengaul nachzusetzen. »Im Grunde der See,« sprach er nun ruhig, »wo die Meerfrau reitet, da klingt Koralle und Muschel – – – im Schloß von Kristall, da geht's hoch her. Meine Mutter, die brachte mir Blumen, als ich einst in der Wiege lag – – die Mutter aber hatte die Blumen geholt bei der Nachtfrau im Walde, – – – da brachte sie eine Lilie, die war groß – – und war verschlossen eine Knospe, – – – Da war es Nacht, und sie stellte die Lilie vor die Wiege in ein Glas Wasser – – da ging die Lilie im Mondschein auf, und daraus flog der Teufel, und der trug mich mit der Wiege auf einen Berg – – o weh! – – (da hub er zu weinen an). Weint nicht! weint nicht! (sprach er dann weiter) es geht der Berg auf, – – siehst du den lichten Zug weißer Jungfrauen aus ihm wallen? Die tragen das Kind zur heiligen Taufe – – Halleluja! – – ha! ha! ha! tanzt! da ist ja die Musik! Seht ihr den Kern des Lichts ins blaue Weltall gesteckt? Wolken! ihr Blätter von Azur und Gold! Jetzt dehnt er sich, jetzt, jetzt ist er Knospe, – spring auf! Nun wogt es, nun strömt es, Farbe, Licht und Ton, die duften aus dem[33] Kelche aus – – es atmen die Berge, die Täler und Klüfte und saugen und trinken mit Ungestüm.«


Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 33-34.
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