Sechste Vorstellung.

[77] Es waren einmal zwei Leute allhier in dieser Stadt, die fanden großes Wohlgefallen aneinander und verbanden sich somit ehelich.

Gleich nach der Brautnacht aber hat sich begeben, daß der Mann die ihm einst so lieblich geschienene Frau nicht mehr entfernt leiden konnte, auch immer behauptete, sie habe das abscheulichste Affengesicht.

Darüber wurde das Weib gar traurig, wandte auch alle Mittel an, sich dem Manne angenehm zu machen; aber alles blieb vergebens.

Nun hat die Hausmagd eines Tages den Strohsack, welcher im Bette der Leute lag, frisch aufgefüllt, da hat sie im Stroh eine Puppe gefunden, die war gar ungestalt und scheußlich anzusehen, die hat sie mit vieler Verwunderung den Leuten gebracht. Da hat der Herr gesprochen:,so und nicht anders kam mir seither mein Weib vor; nun aber seh' ich sie wieder liebenswürdig und schön, wie ich sie vormals sah.'

Und von der Zeit an hat der Mann das Weib wieder ohne Maß geliebt. Die Puppe aber wurde ins Feuer geworfen, und woher sie gekommen, konnte man nie in Erfahrung bringen.«

»Derlei Geschichten nun«, sprach der Mühlknecht weiter, »erzählt man sich in Menge in dieser Stadt; auch ist sie voll Pietisten, Separatisten, Schatzgräbern, Goldmachern und Geisterbeschwörern, die in verschlossenen Zimmern in Bäckerhäusern, bei Goldschmieden und in einsamen Herbergen ihr Wesen treiben.«

Es war mir die Stadt gar wohl bekannt, da ich in ihr geboren und meine Jugend in ihr verlebt; ich hatte aber, was der Mühlknecht jetzt in Worten aussprach, in ihr sonst nur geahnet, wenn ich in stiller Mitternacht auf den weiten Marktplatz[77] herniedersah oder nächtlich durch die verlassenen Straßen ging und mir dann unwillkürlich gewisse Ortsbenennungen einfielen, als: »Hinter dem alten Schlosse, in dem Hexengäßchen, hinter der Gruft, im Rittersaale.«


Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 77-78.
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