Zweite Vorstellung.

[84] Vor dem Tore begegnete mir ein junger Geistlicher, Kapuzinerbruder von dem St. Rosenberg; er hatte in der Stadt vikariert, und so gingen wir gleichen Weg in dem Tale hin.

»Jede Jahreszeit«, sprach der Geistliche, »hat doch ihren eigenen, bestimmten Geruch, der nicht von denen in ihr gerade blühenden Blumen herrührt, sondern wohl ein eigener, aus der Sonne strömender spiritus rector oder Lichtgeist ist, gleichwie jede Jahreszeit ihre eigene Farbe, ja ihren eigenen Ton hat. Ich habe dies in den verschiedensten Gegenden, in denen ich mich schon aufhielt, bemerkt, und werde ich durch nichts an die nämliche vergangene Jahreszeit so erinnert, als durch diesen bestimmten Geruch.«

Jetzt stieg eine Lerche vor uns singend zum Himmel auf.[84] Sie stieg so lange, als noch Töne aus ihr strömten. »Es ist,« sprach der Geistliche, »als würde die Lerche von den aus ihr strömenden Tönen emporgerissen, und ich nenne diesen Vogel gerne – ein tönendes, romantisches Licht.«

Hier ritt der Pfarrer mit der Stockbibel an uns vorüber, er hatte einen Rock von Wachstaffet an, saß auf einem Rappen von lebendigem Leder und hatte einen grünen Sonnenschirm über sein Haupt gebreitet; auf der Nase aber hatte er ein großes, rotes Pflaster liegen, das ihm das Ansehen eines welschen Hahnes gab.

Er warf einen verächtlichen Blick auf den Mönch, während sein Gaul hinten ausschlug. Ich blickte den Mönch mit einem Gesichte an, das ihn fragte: ob ich den Kerl recht durchprügeln soll? er aber sprach: »Betrachten wir hier einzig die lebendige Natur! Mit ihr hab' ich mich von Jugend auf beschäftigt, und ihr immer treu bleiben zu können, erwählte ich den Stand eines Mönchs. Ich entsagte allem; sie nur bleibt meine Geliebte.

Der Garten, den Ihr auf unserem Klosterberge finden werdet, ist von mir angelegt; ich warte der Blumen, der Bäume; ich male die Bilder für die Kirche; ich schlage die Orgel; ich besorge die Apotheke des Klosters. Bemerket diesen freistehenden hohen Lindenbaum, der steht vor dem Klosterstore und sieht weit in das Land hinein.«


Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 84-85.
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