Sechste Vorstellung.

[101] Das Mädchen, dessen ich oben erwähnte, schwieg auch nach diesen Erzählungen immer stille, schien überhaupt an allem keinen Anteil zu nehmen.

Sie hatte die gefalteten Hände auf der geschlossenen Bibel liegen und das blaue Auge stets auf eine Stelle geheftet.

Sie war ganz weiß gekleidet, hatte lange, schwarze Haare, die, auf der hohen Stirn gescheitelt, in glänzenden Locken auf ihren Nacken flossen.

Die Leute schienen des Schlummers zu bedürfen, daher bat ich die Frau, mir ein Zimmer anzuweisen, wo ich ausruhen und den Postwagen erwarten könne. Da befahl sie ihrer Tochter, mich in die Bücherzelle neben der Kapelle zu führen, dem Lieblingsstübchen ihrer Tochter, wie sie es nannte.

»Dies«, sprach sie, »sieht auf den Weg, den der Postwagen fahren muß, und dort könnt Ihr inzwischen in Büchern lesen, den Wagen erwarten oder Euch getrost zur Ruhe begeben; denn so bald wird er wohl noch nicht erscheinen.«

Ich nahm gerührt Abschied von den Leuten.

Wie ein Geist schwebte das bleiche Mädchen über die Gräber des Kirchhofes in die Kapelle; ich folgte ihr schweigend.

Als wir an dem Hochaltare vorüberkamen, machte sie eine Verbeugung, ich tat ihr unwillkürlich gleiches nach.

Nun führte sie mich neben dem Hochaltare in eine Türe ein, und ich kam in eine Zelle, die zur Aufbewahrung einer Klosterbibliothek mußte gedient haben. Noch standen an den Wänden viele alte Bücher umher, auf dem Tische aber stand ein Kruzifix und lagen Schreibmaterialien zerstreut. Eines der Fenster der Zelle sah auf die Heerstraße, das andere auf den Kirchhof.

Stillschweigend setzte die Jungfrau ein Licht auf den Tisch, und stillschweigend ging sie mit einem andern wieder von dannen.[101]

Es war in ihrem ganzen Wesen so was Heiliges und Wunderbares, daß ich mich für unwürdig hielt, mit einem solchen Geschöpfe sprechen zu dürfen.

Ich blickte ihr mit Schauer und Wehmut nach.


Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 101-102.
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