Siebente Vorstellung.

[119] Wir waren in die schönen Gegenden um Nürnberg gekommen und entschlossen uns, von hier an zu Fuße zu gehen.

Ein weites Tal lag vor uns, voll Getreidefelder und Fruchtbäume, die nun voll reifer Früchte hingen.

»Hier an dem weißen Schaume dieses Wasserfalles, in dieser romantischen Gegend, meine wertesten Herren!« – sprach[119] plötzlich der weiße Mann, »erlauben Sie mir, Ihnen eine kleine Probe meiner poetischen Talente und Deklamation zu geben; auch ich reise auf die Leipziger Messe; die weißen Mäuse waren eigentlich für den Park Seiner Durchlaucht bestimmt, ein Surrogat für weiße Hirsche! – Die verdammten Stiefel sind gar zu eng! .. Darf ich Sie nicht bitten, Herr Flügel, etwas zu ziehen?« .. »Gerne!« versetzte Flügel, und zog aus allen Leibeskräften. »Haben Sie etwa Unrat in – –« Plump! da fuhr der Stiefel heraus und mit ihm eine Menge geschriebener Blätter, welche um das Bein wie um eine Spindel gewickelt waren.

»Nun noch den andern«, sprach der weiße Mann; Flügel zog, und es erfolgte gleiches.

Flügel blieb in Gedanken noch immer stehen, als erwartete er einen dritten Fuß; da sprach aber das Gerippe: »Nun sind wir fertig! Sehen Sie!« fuhr es fort, »im rechten Stiefel hab' ich die Trauerspiele, im linken die Lustspiele. Sie werden auch bemerken, daß der linke Fuß in etwas ein Klumpfuß, Bocksfuß, der rechte aber ist etwas erhabener, als der linke, quasi ein Kothurnus. Die Betrachtung dieses hat mich schon in früher Jugend auf den Gedanken gebracht, mich in beiden Dichtungsarten zu versuchen, oder, mich besser auszudrücken, es ist in meinem Gange ganz der Gang Shakespeares dargestellt. Sehen Sie! rechts! links! ganz abwechslungsweise, wie bei Shakespearen, traurig und schnell, dann lustig. Eine traurige Szene, dann auf diese schnell wieder Satire und Witz, dann wieder traurige Szene; Kothurn vorwärts! schnell wieder hintennach mit dem Klumpfuß, will ich sagen mit dem Satir – lustige Szene, und so fort.

Nicht wahr? Setzen Sie sich hier auf diese bemoosten Steine, meine werten Zuhörer, ich aber besteige diesen heiligen Felsen. Es beginnt! –«

Da sprang er wie ein Rasender auf den Felsen, das Manuskript in der Hand, machte eine tiefe Verbeugung, und – wir hörten nichts; – wir sahen nur, wie er bald mit der rechten, bald mit der linken Hand um sich schlug, bald auf einem, bald auf keinem Fuße stand, den Mund aufsperrte, die Augen rollte, das Sacktuch herauszog, sich wie Tränen abwischte. – –

Das Tosen des Wasserfalles war zu groß, um ihn verstehen zu können.

Vergebens riefen wir es ihm aus voller Kehle zu; er hörte uns nicht, wie wir ihn nicht hörten.

Er stand bei einer halben Stunde so, endlich steckte er das Manuskript in den Stiefel und kam mit selbstgefälliger und[120] fragender Miene schwitzend auf uns zu. Da versicherten wir ihn, daß wir auch nicht ein Wort von all dem, was er deklamiert, verstanden und es ihm vergebens zugerufen hätten. Da war der Mann wie vom Felsen gefallen; denn es war ihm, wie er sagte, noch keine Deklamation so trefflich gelungen; er tat auch von da an den Mund nicht mehr zum Reden auf, sondern öffnete ihn nur, um zur Erholung auf seine liebe weiße Zunge zu schauen, die er weit aus dem Munde hing.

Quelle:
Justinus Kerner: Werke. 6 Teile in 2 Bänden, Band 1, Berlin 1914, S. 119-121.
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