§. 5.

[9] Der Athanasius Kircherus ein curieuser und munterer Jesuit beschreibet diese Geschicht in Musurgia universali folgender Gestalt: Eine fast unglaubliche Geschicht hat sich in Hameln einer im Nieder-Sachsen an der Weser gelegener Stadt zugetragen. Als die Einwohner in dem Jahre von ungemein vielen Ratzen und Mäusen geqvälet wurden / und das Ubel von Tage zu Tage grösser ward / so daß sie das Geträyde nicht mehr erhalten konten noch den Saamen / und urterschiedene Rathschläge vornehmen diesen Ubel beyzukommen / geschicht es / daß sich ein Mann der gantz unbekant von seltzamer Statur angiebt / er wolle alle Ratzen und Mäuse in einen Augenblick von sie wegschaffen / wenn sie ihm eine gewisse Summa Geldes zu zahlen versprächen. Was war diesen Leuten lieber als solches Anerbieten! Sie versprechen ihm das Geld zu geben. Darauff ziehet der Mann eine kleine Pfeiffe aus seinen Schiebsacke / und fänget [9] an zu pfeiffen. Alsbald kommen alle Mäuse und Ratzen aus allen Enden und Oertern herfür und folgen diesen Manne biß an den Fluß / der Mann schürtzet die Kleider auff und gehet in den Fluß / die Mäuse folgen alle und ersäuffen sich selbsten. Nachdem er nun seine Zauberey vollbracht / fodert er den versprochenen Lohn. Da sich aber die Bürger untereinander wegen des Lohns noch lange besinnen / fähet er an zu drohen / wo sie ihm den versprochenen Lohn nicht gäben /wolte er noch einen weit grössern prætendiren. Die Bürger lachen über seine Dräu-Worte. Was geschicht? Er kömmt den folgenden Tag wieder in die Stadt gegen den Mittag in Gestalt eines Jägers / von erschrecklichen Gesichte / einen rothen wunderlich gestallten Huth aufhabende / fänget mit einer gantz andern Pfeiffe an zu pfeiffen / so bald es die Kinder so von 4 biß 12 Jahren gehöret / lauffen sie in der gantzen Stadt zusammen / und folgen diesen wunderlichen Klange. Es ist aber vor der Stadt an einen Berge eine Höhle / dahin sie dieser Pfeiffer alle geführet. Von dieser Zeit an hat man keinen [10] Knaben wieder erblicket / auch nicht erfahren können / was man mit ihnen vorgenommen oder wo sie hinkommen seyn. Diesen wunderlichen Ausgang ihrer Kinder pflegen die Einwohner noch Jährlich zu behertzigen am Tage / wie sie ihn nennen / unserer Kinder Ausgang. Ich bin selber in dieser Stadt gewesen / habe auch den Berg gesehen / und mit Verwunderung die Abbildung dieser Geschicht in der Kirchen beschauet. Ich frage /ob der Klang dieser Pfeiffe von solcher Würckung gewesen? Ich antworte / es sey sonder Zweiffel der Teufel gewesen / der aus Gottes sonderbahren Rath / die bezauberte Kinder in ein ander Theil der Welt geführet. Denn die Siebenbürgische Chroniken bezeugen /daß um diese Zeit in Siebenbürgen geschwinde Kinder ankommen seyn mit frembden Sprachen / und allda sich niedergelassen und ihre Sprache so fortgepflanzet / daß sie noch biß auf diesen Tag keine andere Sprache als Sächsisch teutsch reden. Wie solches Kircherus weitläufftig referiret / aus welchen es hernachmahls der Schottus und andere mehr genommen haben / ob [11] sie gleich in etlichen Umständen ein wenig discrepiren. Man hat auch von dieser Historie des Lucæ Lossii Rectoris des Lüneburgischen Gymnasii und M. Hannibalis Nulleji der an der Schulen zu Hameln gewesen carmina. Welche herzuschreiben vieleicht Verdruß erwecken möchte. Man lese nur den Erichium, der führet sonderlich einen gelehrten Auonymum an / der es Carminice gar fein gegeben.

Quelle:
[Meister, Johann Gottlieb:] M. Theodori Kirchmayeri Curiöse Historia von den unglücklichen Ausgange der Hamelischen Kinder. Aus dem Lat. ins Teutsche übers. von M. M. [d.i. Johann Gottlieb Meister], Dresden, Leipzig 1702, S. 9-12.
Lizenz:
Kategorien: