Klabund

Bußpredigt

[597] Was tat ich, daß ich euch schöne Worte sang und Äolsharfen in den Wind hing? Ich bin so müde meines Seins, so müde der Tulpenglocken und der grünen Hirtenflöte... Tut Buße! Tut Buße! Denn das Reich der Hölle ist nahe herbeigekommen. Eure Herzen wurden Schlangennester. Eure Augen trübe Pfützen des blutigen Lasters. Eure Hände, zu liebender Umarmung einst bestimmt, greifen in leere Luft. Das Eismeer trat über seine Ufer.

Erratische Blöcke zermalmen den blühenden Garten. Kometen schleifen feurige Schwänze wie Trauerschleppen durch die Straßen: und die Stadt steht steil in Brand. Schlagt euch an eure zerfallene Brust: ehemals göttlicher Dom, nunmehr eine knöcherne Ruine, darin jegliches Unkraut: Haß, Niedertracht, Neid, Unzucht, Lüge, Feigheit, Hochmut wuchert. Schreit, brüllt, kniet in den Kot eurer eigenen Leichen; schreit: Ich Sünder. Ich wandelnder Dreck. Eitriger Auswurf eines verwesenden Bonzen.

Seliger einst am Saume der Welt; saumseliger, seufzend im Süden, verweint in Nelkenduft, Falter, mit den Flügeln leiseatmend auf den Orangenbrüsten der blonden Frau.[597]

Der Regen blutet aus meiner Wunde.

Die Sonne schlägt mich an feuriges Kreuz.

Ich schäume: rotes Meer. Ich schreie: ich Namen los, ich Traum: bin schuld am Kriege.

Ein jeder: ich. Millionen Ich... sind schuld, sind schuld. Die Geißel Gottes knallt.

Ich kenne, bekenne mich: zur Pflicht, zur Verpflichtung, zur Wahrheit, zum Geständnis. Es gilt, unsere Schuld in die Welt zu pauken, zu posaunen, zu läuten, zu zischeln, zu heulen: daß man uns, Geistige oder zum Geiste doch Gewillte, nicht für Söldner eines Machtgedankens, des Räuberrevolvers, mehr halte. Der Krieg wäre nie ein so widerlicher Koloß geworden, hätte er sich nicht an gewissen eitrigen Abszessen unserer Seele gemästet.

Reißt das Hemd auf. Schlagt euch an die Brust: bekennt: ich, ich bin schuldig. Will es büßen. Durch Wort und Tat. Durch gutes Wort und bessere Tat.

Dünke sich niemand zu niedrig, seine Schuld zu bekennen. Niemand zu hoch.

Wir schweigen von den Krieglingen aller Länder, die es heute noch gibt; ihnen kann man nicht ins Gewissen reden, denn sie haben keines. Aber ihr, die ihr, wie ich, längst erweckt seid – erwacht von einem üblen Traum, der wie ein Alp euch drückte – bekennt, aus falscher Scham bisher nur schweigend, daß dieser Traum ein Trugbild war, daß ihr Narren (und manche von euch, die sich für den Krieg als Krieg einsetzten. Schlimmeres als Narren) wart, als ihr an das Stahlbad der Seele, welches ein Blutbad wurde, als ihr an den Macht-, Nacht- und Bajonettgedanken, an den Krieg als ethischen Umwerter, an die deutsche, französische, englische »Sache« glaubtet, während ihr an die menschliche Idee hättet glauben sollen! Ob ihr eure damalige Meinung in Schrift und Sprache verteidigt habt, das gilt gleichviel. Ihr dachtet so: sie klang im Chorus mit.


Schwört ab den Taumel 1914! Die Resignation 1915! Die Skepsis 1916! Bekennt euch zu 1917! Bäumt euch! Zum neuen Willen einer neuen Zeit! Schnellt auf aus eurer Passivität wie ein lang angezogener Bogen zur Aktivität: der Anklage, der Buße,[598] der Besserung. Es heißt, unsere jetzige Position deutlich, zu bekennen – damit noch viele zu uns aufs Podium treten. Und ihrer seien tausend, zehntausend – und mehr. Vor dem Gedanken eines zweiten derartigen Krieges bekreuzt sich die ganze Welt. Fallen Mütter in Ohnmacht und Wahnsinn. Werden Kinder zu Verbrechern.

Es gibt in Deutschland eine mächtige Partei, die es wagt, in diesem Kriege vom nächsten Kriege zu sprechen. Ihr Gerede ist Blasphemie, Hochverrat am Geiste, Gottes- und Menschenlästerung. Die Desorganisation der Geistigen ist mit an diesem Krieg schuld. Wir alle sind am Krieg schuld, weil wir ihn kommen sahen und nichts dagegen taten und, als er ausbrach, uns über seine wahren Wege täuschen ließen.

Ein rasender Protest gegen den kriegerischen Gedanken und das kriegerische System in der ganzen Welt tut not.

Wir wollen nicht schweigen, nicht eines zweiten Weltkrieges schuldig werden.

Erreichen wir unser Ziel nicht, so sind wir umsonst am Leben geblieben und lägen besser, geruhig gehütet, bei den Toten von Ypem und Kowno, von Gallipoli und Görz.

Es geht um den Adel der Erde. Entthront wurde die ewige Kaiserin: die Natur. Die Erbsünde des abstrakten Menschen: der Zwiespalt zwischen Idee und Wirklichkeit: wird in die Weite getragen, droht die Erde zu zerreißen. Dies darf nicht sein: als Geistiger in hohen Wolken schweben, als Wirklicher Macht vor Recht setzen, Bajonett vor flehend gehobener Hand. Es darf nicht sein: das Gute in der Anschauung haben und begreifen, und schlecht handeln, schlecht sein. Ehe nicht die Idee des Guten in die Tat umgesetzt ist, ehe wir nicht danach streben, gut zu sein, anstatt Gutes zu denken, eher haben wir kein Recht, auf den wahren Sieg zu hoffen, den Sieg der Sonne, des Mondes, der blauen Berge und des roten Herzens.

Es ist entsetzlich zu sehen, wie kleine militärische Erfolge die Völker alsbald golden umnebeln: mit einem rein äußerlichen Siegesrausch, und sie vom Wesentlichen sofort wieder abziehen. Als ob es für die ethische Beendigung des Krieges von irgendwelcher Wichtigkeit wäre, noch einige Tausend Quadratkilometer zu erobern – um den Preis von hunderttausend hinge –[599] schlachteten Menschentieren. Als ob durch einen militärischen Sieg der einen Partei die moralischen und rechtlichen Fragen aus der Welt geschafft würden!


Es ist ein trauriges Zeichen unserer militarisierten Zeit, daß die Politiker ihre Direktiven von den Generalen empfangen – anstatt umgekehrt. Es fehlt an Verjüngung in Geist und Willen, an Vergeistigung in den Zielen und Mitteln. Zum Teufel mit der Realpolitik! Man treibe Ideenpolitik! Indem man sich nicht wie die Realpolitik von den Realitäten treiben läßt, sondern indem man aus der Kraft der Idee das Reale schafft.

Am Bahnhofsportal steht der Heilsarmeesoldat Posten, gehorsam dem Befehl des Generals.

Tausende rennen, rasen, schleichen, stolpern an ihm vorbei. Er hält den »Kriegsruf« in der Hand.

Stumm, die Zähne zusammengebissen, wartet der Heilsarmeesoldat. Er darf nicht schreien: Gott! Güte! Gerechtigkeit! Denn die Polizei hat es ihm verboten.

So ist es unsere Pflicht, die Pflicht der aus trübem Traum Erwachsenen, der Sinnenden, der Besonnenen, nicht mehr Getäuschten (nicht: Enttäuschten), der zum Geist Emporgerissenen: Verächter der Macht, der Nacht und des räuberischen Taumels: am Portal der Zukunft zu stehen, den Friedensruf, den Ruf des ewigen Friedens und der neuen Menschlichkeit auf den Lippen, Soldaten wir der Armee des einzigen Heils. Heute hört den Ruf nur einer, morgen sind es ein Dutzend, übermorgen Tausende.

Es gilt zu warten, die Zähne zusammengebissen.

Einmal wird das mythische Feuer herniederfahren und alle heute noch Irrenden und Schwankenden mit Erkenntnis beglänzen und zu entschlossener Tat entflammen.

Mag heute noch Gelächter oder Niedertracht wie Hagel auf uns niederprasseln: Soldaten der Seele, es heißt standgehalten. Einmal wird die rote Fahne, in unserem Blut getränkt, im Frühlingslicht flattern.

Ihr Sybariten des Blutes: dann seid verflucht!

Ihr Heuchler, ihr Unerwachten, ihr Trägen – dahin dann zu den Kröten in die Keller ewigen Todes.[600]

Ihr aber, Unsterbliche, Unendliche, Legionäre der heiligen Armee, auf, zu den Trommeln, zu den Flöten: Schwingt eure Waffen: den Lilienstengel, die Weidenzweige, daran noch Kätzchen hängen, die Mimosenbüschel, die Sonnenblume. Gott winkt! Uns, seinen silbernen Söhnen!

Quelle:
Klabund: Der himmlische Vagant. Köln 1968, S. 597-601.
Entstanden 1917. Erstdruck in: Die weißen Blätter (Bern), August 1918.
Lizenz:

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