Vierter Auftritt

[320] Eine Alraune tritt auf, mit Krücke und Laterne. Die Vorigen.


VARUS.

Auf diesem Weg, den ich im Irrtum griff,

Stammütterchen Cheruskas, sag mir an,

Wo komm ich her? Wo bin ich? Wohin wandr ich?

DIE ALRAUNE.

Varus, o Feldherr Roms, das sind drei Fragen!

Auf mehr nicht kann mein Mund dir Rede stehn!

VARUS.

Sind deine Worte so geprägt,

Daß du, wie Stücken Goldes, sie berechnest?

Wohlan, es sei, ich bin damit zufrieden!

Wo komm ich her?

DIE ALRAUNE.

Aus Nichts, Quintilius Varus![320]

VARUS.

Aus Nichts? – Ich komm aus Arkon heut.

– Die Römische Sibylle, seh ich wohl,

Und jene Wunderfrau von Endor bist du nicht.

– Laß sehn, wie du die andern Punkt' erledigst!

Wenn du nicht weißt, woher des Wegs ich wandre:

Wenn ich südwestwärts, sprich, stets ihn verfolge,

Wo geh ich hin?

DIE ALRAUNE.

Ins Nichts, Quintilius Varus!

VARUS.

Ins Nichts? – Du singst ja, wie ein Rabe!

Von wannen kommt dir diese Wissenschaft?

Eh ich in Charons düstern Nachen steige,

Denk ich, als Sieger, zweimal noch

Rom, mit der heiteren Quadriga, zu durchschreiten!

Das hat ein Priester Jovis mir vertraut.

– Triff, bitt ich dich, der dritten Frage,

Die du vergönnt mir, besser auf die Stirn!

Du siehst, die Nacht hat mich Verirrten überfallen:

Wo geh ich her? Wo geh ich hin?

Und wenn du das nicht weißt, wohlan:

Wo bin ich? sag mir an, das wirst du wissen;

In welcher Gegend hier befind ich mich?

DIE ALRAUNE.

Zwei Schritt vom Grab, Quintilius Varus,

Hart zwischen Nichts und Nichts! Gehab dich wohl!

Das sind genau der Fragen drei;

Der Fragen mehr, auf dieser Heide,

Gibt die cheruskische Alraune nicht!


Sie verschwindet.


Quelle:
Heinrich von Kleist: Werke und Briefe in vier Bänden. Band 2, Berlin und Weimar 1978, S. 320-321.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Die Hermannsschlacht
Die Hermannsschlacht
Die Hermannsschlacht: In einer Bearbeitung von Rudolph Genée. Mit Erläuterungen von Alfred Heil
Hermannsschlacht: Ein Gedicht Auf Ã-sterreich (German Edition)