Fünfte Szene


[924] Straße.


FRANZ dem Haus gegenüber. Lieblich, Nachtigall, ist dein Gesang ohne Minnas Lied. Liebe, laß dich sehen, verdunkle den Glanz des Monds! Liebe, erscheine doch! Man hört Harfe und Gesang. Schweig, Nachtigall; Harfenklang und Engelsstimm! Todesstill! – Seligkeit kommt herab, und ist in mir. Ich will mich auf diesen Stein setzen; den Tag erwarten; Paradies ganz um mich! still!


Dauert fort.


JULIE am Fenster. Meinen Lieben an den Sternen suchen! Franz, denkst du meiner? Lieber, hörtest du das Lied? Dir sang ich's, meine Augen gerichtet nach dem Mond, such ich dich.

FRANZ. Minna, meine Liebe, rede!

JULIE. Betrügt mich meine Phantasie; hör ich was?

FRANZ. Minna, holde Liebe!

JULIE. Und noch einmal. Kannst du mir seine Stimme so lebhaft schallen lassen?

FRANZ. Ich bin hier, hör dem Lied schon lange zu, die Stunde schlug, ich sah nach dem Mond, flog denn hieher.

JULIE. Sei willkommen, lieber Franz, beim Mondenschein!

FRANZ. Liebliche Sonne, tötest du den Mond und die hellen Sterne. Deine Augen! – gib mir Liebe, Flügel, daß ich zu ihr flieh!

JULIE. Franz, gute Nacht! Hast du die Szene übersetzt vom Romeo?

FRANZ. Ich konnte nicht; sah meine Liebe; vergaß Romeos seine.

JULIE. Gut, daß die Nacht meine Scham verbirgt. Romeo, ich lieb zum erstenmal, du könntest mich in andre Welten ziehen, hör meine Liebe nicht, hör nicht, was sie sagt bei dunkler Nacht!

FRANZ. Mehr, mehr, könnt ich die Nacht verlängern!

JULIE. Nicht so laut, Franz! die Nachbarn hören's. Mein Vater schläft im Nebenzimmer.

FRANZ. Nur die Liebe hört's.

JULIE. Hör meine Liebe nicht! Ich sagt es nicht.

FRANZ. Gib mir alle Liebe; ich will sie wahren, bei dem Glanz des heiligen Monds.

JULIE. Schwöre nicht! Du hast sie ganz. Könnt ich dir immer geben, könnte immer noch geben. Gute Nacht, gute Nacht! ich kann dir immer Liebe geben, unaufhörlich Liebe geben; gute Nacht![924]

FRANZ. Geh nicht weg, holde Liebe! ich steh bis an hellen Tag.

JULIE. Du siehst mich morgen. Gute Nacht!

FRANZ. Muß ich gehen? Engel, heilig sei die Nacht!

JULIE. Heilig sei die Nacht! gute Nacht!

FRANZ. Dein Schlaf sei selig. Gute Nacht!

Quelle:
Sturm und Drang. Band 2, München 1971, S. 924-925.
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