Man würde demjenigen Publico, das diesen großen Namen verdient, nicht alle Ehrerbietung erzeigen, die man ihm schuldig ist, wenn man es nicht mit der sorgfältigsten Genauigkeit, von dem großen Haufen unterschiede. Es ist desto nötiger diesen Unterschied festzusetzen, je öfter der große Haufen sich es hat anmaßen wollen, mit zum Publico zu gehören.
Das eigentliche Publicum besteht überhaupt aus wenigern Mitgliedern, als viele denken, die sich gern dazu rechneten. Erst ist es ein andres Publicum, das Arbeiten der schönen Künste; ein andres, das Werke der schönen Wissenschaften; und wieder ein anderes, das gelehrte Schriften entscheidend beurteilen kann. Ich will hiermit die Vorzüge der wenigen vortrefflichen Mitglieder des Publici nicht aufheben, deren Stimme in allen dreien Arten von Gewicht ist. Zweitens, ist die Anzahl derer, die das Publicum ausmachen, im Anfange, wenn diese oder jene Werke zuerst erscheinen, niemals so groß, als sie alsdann ist, wann man sagen kann, das Publicum habe nun völlig entschieden. Oft müssen viele Jahre vorüber sein, eh man mit Gewißheit glauben kann, daß diese völlige Entscheidung geschehn sei. Die Geschichte und unsre eigne Erfahrung überzeugen uns hiervon. Ich will, um meine Gedanken genauer zu bestimmen, diejenigen, die das wahre Publicum ausmachen, in zwo Ordnungen abteilen. Zu der ersten gehören die, welche so sehr berechtigt sind, den Wert eines Werkes zu bestimmen, daß sie gleich im Anfange, wann dasselbe Werk bekannt gemacht wird, dies ihr Endurteil fällen dürfen. Daß ich von denen, welche die zweite Klasse ausmachen, nicht klein denke, beweise ich dadurch, daß ich keine dritte zugebe. Alle Stufen, die weiter heruntergehn, gehören für den großen Haufen. Die Art, wie sie der zweiten folgen, hat Virgil beschrieben, wenn er sagt: Der nächste; aber in weiter Entfernung, der nächste. Ich nenne, um mich in der Folge kürzer auszudrücken, jene ersten, [930] Richter; und die vom zweiten Range, Kenner. Ich rede itzt nur von Richtern und Kennern in Absicht auf die schönen Wissenschaften. Die Begriffe, die ich mir von einem Richter mache, sind diese.
Er hat von der Natur eine starke Anlage, Geschmack zu haben, bekommen. Diese reiche Fähigkeit hat er durch das Lesen der Meisterstücke der schönen Wissenschaften und durch Umgang mit denen Wenigen aus der großen Welt, die wirklich dazu gezählt zu werden verdienen, oder wenn es ihm hierzu an Gelegenheit fehlte, durch eine richtige Kenntnis von der Art zu denken, die diese seltnen Männer haben, nicht allein ausgebildet; sondern er ist auch so weit gegangen, daß er das Schöne bis auf seine ersten Linien, durch Grundsätze bestimmt hat. Und da seine Grundsätze, bei aller ihrer Feinheit, gleichwohl noch Wahrheit geblieben sind; so ist sein Geschmack so gewiß, so vielseitig und ausgebreitet, daß er sich auf jede Denkart einzulassen, und verschiedne Werke, nach der ihnen eignen Wendung, diese liege in der Hauptidee, oder in der Kolorite, oder in beiden, zu beurteilen weiß. Weit entfernt ein Sklav gewisser allgemeiner Regeln zu sein, die eben dadurch fast nichts mehr sagen, weil sie allgemein sind, findet er die neue Regel zu der neuen Schönheit aus. Er tut hier nichts anders, als was Aristoteles, durch eben die Werke veranlaßt, auch getan haben würde. Und da die Regel seit jeher auf das Meisterstück gefolgt ist; so veranlassen ihn zum Exempel Clarissa und Grandison, zu neuen Regeln. Auf der Seite, auf welcher ich ihn betrachte, ist es gleichgültig, ob er seine Urteile sage, oder schreibe. Wenn er sie aber schreibt, so schreibt er selbst vortrefflich. Denn wenn er dies nicht täte, so würde er aufhören zu sein, was er ist. Wofern er nebst diesem allen ein Herz hat, das ihn auf keine, auch nicht die unmerklichste Art, verführt, unrichtig, oder klein zu denken; so ist er der würdige Mann, dessen Beifall immer der zweite Wunsch eines jeden Skribenten sein wird, der, aus moralischen Absichten, schön zu schreiben sich bestrebt.
Ich habe mich schon erklärt, daß ich denjenigen Teil des Publici, dem ich den Namen der Kenner gebe, gar nicht weit[931] unter die Richter setze. Es ist nur ein geringer Unterschied zwischen beiden. Denn Verdienste grenzen immer nahe aneinander. Der Richter und der Kenner scheinen mir nur in folgenden verschieden zu sein. Der Kenner ist bei der praktischen Ausbildung seiner angebornen Fähigkeit zum Geschmacke stehngeblieben. Und wenn er auch bisweilen auf dem Wege der Untersuchung einige Schritte weitergegangen ist; so hat er sich doch demjenigen hohen Grade der Gewißheit nicht genung genähert, welchen die Verbindung des durch Muster genährten und gereiften Geschmacks mit der tiefsinnigen Einsicht in die Grundsätze, allein erreicht. Daher kömmt es, daß er teils weniger ausgebreitete Aussichten in die Gegenden des Schönen vor sich hat, teils nicht ohne einen gewissen, oft liebenswürdigen Eigensinn ist, sich auf diese oder jene Seite parteiisch zu lenken. Er verfällt unterweilen in den Fehler, die höhere und eigentliche Kritik mit denjenigen gewagten Urteilen, die wir in den meisten Lehrbüchern finden, zu vermengen, und durch diesen Gedanken unvermerkt verleitet, seiner bloßen Empfindung zu viel Gewißheit zuzutraun. Aber da er dennoch bei sich entdeckt, daß sein Geschmack noch hier und da irren könne; so entsteht eine Neigung bei ihm, dem Urteile desjenigen, den er für einen Richter erkennt, nachzugeben. Ich meine nicht, daß er sein eignes Urteil von den Aussprüchen dieses Richters abhängen lasse; er wird aber doch dadurch nicht selten veranlaßt und geleitet.
Dieses habe ich voraussetzen müssen, um mich umständlicher zu erklären, auf welche Art das Publicum nach und nach bis zu dem Zeitpunkte fortgehe, da es, durch die mehrern, oder vielmehr beinahe durch alle Stimmen sein letztes entscheidendes Urteil spricht.
Itzt, setze ich, wird eine Schrift, die das Publicum seiner Aufmerksamkeit würdigt, herausgegeben. Andre Schriften, über deren monatliche, oder zwei-dreijährige Dauer der große Haufen zu urteilen hat, überläßt man den kleinen Zänkereien desselben. Ein Werk von der ersten Art erscheint. Die Richter fangen an, ihren Ausspruch zu tun; auch einige Kenner erklären sich. Aber von diesen letzten, die den größten Teil des[932] Publici ausmachen, sind noch zu wenige, die es öffentlich tun. Das Werk ist noch zu neu, als daß die Wahrheit der ersten Aussprüche schon alle ihre Eindrücke gemacht haben sollte. Unterdes verurteilt der große Haufen. Denn es wäre ein sehr seltner Fall, daß er Werke nicht verurteilen sollte, die das Publicum würdig gehalten hat, ihr Schicksal zu entscheiden. Hundert kleine Richterstühle erschallen von nichts, als Aussprüchen. Das Publicum, das lange festgesetzt hat, daß Niederträchtigkeit verachtet, halber Geschmack verlacht, Unwissenheit mit Mitleiden angesehn werden muß, bemerkt diese kleinen Nebenrichter nicht. Es läßt sie ganz ausschreien, und sieht sie ruhig ihre angemaßte Gerichtbarkeit über ihre Grenzen ausdehnen. Wie wäre es möglich, daß das Publicum mit dem großen Haufen in Streit geriete?
Unterdes sind einige neue Richter aufgetreten. Mehr Kenner haben sich erklärt. Die völlige Entscheidung macht sich nun merklicher; die öffentlichen Urteile haben sich auch in guten Gesellschaften ausgebreitet. Dort hatten schon vorher Richter und Kenner ihre Gedanken gesagt. Die gedruckten Urteile waren einigen von den Gesellschaften nur eine Bestätigung desjenigen, was sie schon angenommen hatten.
Und nun ist der Zeitpunkt gekommen, da der Skribent völlig belohnt, und das Werk seiner Ehrbegierde, oder, wenn er edler dachte, die Frucht reinerer moralischen Absichten den Nachkommen übergeben wird. Nun sind diejenigen, die dann unter dem großen Haufen das Richteramt verwalten, und die einige Jahre früher wie ihre Vorfahren, geschrieen haben würden, ein unbedeutender Haufen von lobpreisenden Nachsagern, die itzt ebenso wenig loben können, als sie ehmals zu tadeln vermocht hätten.
Die Entscheidung des Publici kömmt gewöhnlich auf die angeführte Art zur Reife. Allein dies geschieht früher oder später, nachdem der Geschmack unter einer Nation mehr oder weniger ausgebreitet ist.
Bisweilen trägt es sich zu, daß ein Werk, wie ich es beschrieben habe, zu einer Zeit herauskömmt, da die Nation, zu welcher der Verfasser desselben gehört, fast noch gar keine Kenner,[933] und noch weniger Richter hat. Das Werk, so sich zu solchen Zeiten hervorwagt, scheint gleich nach seiner Geburt zu sterben. Aber nun, vielleicht erst nach vielen Jahren, bekömmt diese Nation Geschmack. Die fast ganz vergeßne Schrift wird hervorgesucht, und ihr die Stelle angewiesen, die sie bei der Nachwelt haben wird.
Ist es zu der Zeit, daß unter einer Nation ein würdiges Werk erscheint, da ihr Geschmack erst anfängt sich zu bilden, so wird es zwar anfangs nicht völlig verkannt; allein das Urteil des Publici entwickelt sich doch nur langsam. Die Kenner selbst sind noch ein wenig schwankend, und viel zu gütig. Die Nachsicht, mit der gegen den halben Geschmack verfahren wird, geht noch zu weit. Die Anzahl der Richter ist noch zu klein.
Hat aber ein Skribent das Glück zu einer Zeit zu schreiben, da der Geschmack seiner Nation schon völlig ausgebildet ist; so hat er bloß zu einigen niederträchtigen Angriffen stillzuschweigen, die nur deswegen auf ihn geschehn, weil er noch nicht tot ist. Denn wenn er auch menschlich genung wäre, sogar diejenigen nicht zu verachten, die so stolz sind, daß sie ihre Aussprüche über Sachen, die sie gar nicht beurteilen können, für nötig halten; welchen Nutzen würde es haben, wenn er sein Stillschweigen bräche?
Buchempfehlung
1858 in Siegburg geboren, schreibt Adelheit Wette 1890 zum Vergnügen das Märchenspiel »Hänsel und Gretel«. Daraus entsteht die Idee, ihr Bruder, der Komponist Engelbert Humperdinck, könne einige Textstellen zu einem Singspiel für Wettes Töchter vertonen. Stattdessen entsteht eine ganze Oper, die am 23. Dezember 1893 am Weimarer Hoftheater uraufgeführt wird.
40 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
442 Seiten, 16.80 Euro