Achtes Kapitel

[264] Muß ich, um diesen Entschluß zu rechtfertigen, noch mit einigen starken, aber wahren Zügen meine damalige Lage und Gemütsstimmung schildern? Ach, ich teilte sie, leider, fast mit jedem Einwohner von Petersburg! So weit hatten es böse Menschen gebracht, die das Vertrauen eines zu herzlicher Güte geneigten Monarchen mißbrauchten und ihm überall Schreckbilder aufstellten, die nicht vorhanden waren, ja, an die sie selbst nicht glaubten. Mit bangen Ahndungen legte ich mich jeden Abend zu Bett; zitternd hörte ich in der Nacht jedes Geräusch auf der Straße, jeden Wagen, der in der Nähe meiner Wohnung anhielt; ich erwachte zu neuen Sorgen, wie ich an diesem Tage jedes Unglück vermeiden wolle; ängstlich fuhr ich auf den Straßen, um ja, wenn etwa der Kaiser mir begegnen würde, zu rechter Zeit auszusteigen; mit ungewohnter Sorgfalt wachte ich über jedes meiner Kleidungsstücke und über die Art sie zu tragen; Weibern von zweideutigem Rufe und Männern von schwachem Geiste mußte ich huldigen; den unverschämten Übermut eines unwissenden Ballettmeisters (des Gemahls der Madame Chevalier) ertragen; bei jeder Aufführung eines neuen Stückes zitternd erwarten, ob die immer wachsame Polizei oder Geheime Expedition nicht etwa ein unwillkürliches Vergehen darin entdeckt habe. So oft meine Frau mit meinen Kindern spazieren fuhr und etwa einige Minuten über die bestimmte Zeit ausblieb, zitterte ich zu erfahren, daß sie nicht schnell genug vor dem Kaiser ausgestiegen und deshalb wie die Frau des Gastwirts Demut in ein Polizeigefängnis gebracht worden sei! Nur selten konnte ich meinen Kummer[265] in den Busen eines Freundes ausschütten; denn alle Wände hatten Ohren, und der Bruder traute dem Bruder nicht mehr! Keine Lektüre konnte mich um die gräßliche Zeit betrügen; denn alle Bücher waren ja verboten! Auch die Feder mußte ich wegwerfen, mir selbst durfte ich nichts vertrauen; denn wie leicht konnte man plötzlich mein Portefeuille untersuchen! Ein Gang in Geschäften, wenn er vor dem Schlosse vorbeiführte, drohte der Gesundheit Gefahr; denn bei dem übelsten Wetter durfte man sich dieser Steinmasse nur mit entblößtem Kopfe nähern. Der harmloseste Spaziergang gewährte keine Zerstreuung; denn fast täglich begegnete man Unglücklichen, die arretiert, vielleicht gar zur Knute geführt wurden.

Ich berufe mich auf das Zeugnis jedes Einwohners von Petersburg, ob die Farben, in welche ich meinen Pinsel getaucht habe, zu schwarz sind. O, hätte der Monarch das gewußt! Er, dem es gewiß Ernst war, seine Untertanen zu beglücken!

Und nun denke man sich bei einer solchen Gemütsstimmung meinen Schrecken, als am 16ten Dezember, morgens um acht Uhr, der Herr Graf von der Pahlen einen Polizeioffizier mit dem Befehle zu mir schickte, daß ich mich augenblicklich zu ihm begeben sollte. Zwar hatte er zu dieser Botschaft nicht allein einen sanften, höflichen, mir bekannten Jüngling gewählt, sondern ihm auch ausdrücklich befohlen, mir zu sagen, ich solle nicht erschrecken; es habe nichts Schlimmes zu bedeuten. Aber schon sein bloßer Anblick, seine ersten Worte waren hinlänglich, mir das Blut zum Herzen zu treiben, und meine Frau wurde so dadurch erschüttert, daß sie Arzenei nehmen mußte.[266]

Als ich zu dem Grafen von der Pahlen kam, sagte er mir lächelnd: der Kaiser wolle eine Ausforderung zu einem Turnier an die Souveräne von Europa und ihre Minister erlassen. Diese solle von mir geschrieben und dann durch die Zeitungen bekannt gemacht werden. Baron Thugut besonders sei darin mit scharfer Lauge zu waschen und die Generale Kutusow und Graf Pahlen als Sekundanten des Kaisers zu nennen. (Den letztern Einfall wegen der Sekundanten hatte der Kaiser erst vor einer halben Stunde gehabt und geschwind deshalb mit Bleistift einen Zettel geschrieben, der bei dem Grafen auf dem Tische lag.) In einer Stunde sollte dieses seltsame Werk fertig sein, und der Kaiser hatte befohlen, daß ich es ihm persönlich überreichen sollte.

Ich gehorchte, und nach einer Stunde brachte ich die Ausforderung. Der Graf, der die Gesinnungen des Monarchen besser kannte als ich, fand sie nicht beißend genug. Ich setzte mich nun in seinem Kabinett nieder und machte eine zweite, die ihm besser schien. Jetzt fuhren wir nach Hofe. Zum ersten Male sollte ich nun vor den Mann treten, der mir durch Härte und Wohltaten, Schrecken und Freude, Kummer und Dankbarkeit so merkwürdig geworden war. Ich hatte diese Ehre kaum gewünscht, auch gezweifelt, daß sie mir jemals widerfahren würde; denn mein Anblick konnte doch nicht anders als drückend für ihn sein.

Wir standen lange im Vorzimmer. Der Kaiser war spazieren geritten; doch endlich kam er. Graf Pahlen ging mit meinem Papiere zu ihm hinein, verweilte ziemlich lange, kam verdrießlich zurück und sagte mir im Vorbeigehn nur die Worte: »Kommen Sie um zwei Uhr zu mir; es muß noch schärfer werden.«[267]

Ich begab mich also nach Hause und war überzeugt, daß es mir auf diesem Wege schwerlich gelingen werde, die Gunst des Monarchen zu erhalten. Kaum war ich aber eine halbe Stunde auf meinem Zimmer, als ein Hofbedienter atemlos hereinstürzte und mir sagte: ich solle augenblicklich zum Kaiser kommen. Ich eilte, so sehr ich konnte.

Als ich in des Kaisers Kabinett trat, wo außer ihm nur der Graf Pahlen gegenwärtig war, stand er vom Schreibtisch auf, trat mir einen Schritt entgegen und sagte, indem er sich verbeugte, mit einer unaussprechlich liebenswürdigen Art: »Herr von Kotzebue, ich muß damit anfangen, mich mit Ihnen zu versöhnen.«

Ich wurde durch diesen unerwarteten Empfang sehr erschüttert. Welch eine Zaubergewalt steht den Fürsten zu Gebote! Sie heißt Milde. Aller Groll war aus meinem Herzen verschwunden. Der Etikette gemäß wollte ich dem Kaiser kniend die Hand küssen; er hob mich aber freundlich auf, küßte mich auf die Stirn und fuhr in sehr reinem Deutsch fort:

»Sie sind bekannt genug mit der Welt, um au fait der politischen Begebenheiten zu sein. Sie wissen auch, wie ich dabei figuriert habe. Ich habe mich« – setzte er scherzend hinzu – »oft dumm benommen (seine eigenen Ausdrücke): dafür muß ich büßen, das ist billig; und ich habe mir daher selbst eine Strafe diktiert. Ich wünsche nämlich, daß dieses« – er hielt ein Blatt in der Hand – »in die Hamburger und andere Zeitungen eingerückt werde.«

Hierauf nahm er mich vertraulich unter den Arm, zog mich ans Fenster und las mir das französisch und eigenhändig geschriebene Blatt vor. Es lautete von Wort zu[268] Wort und mit Beibehaltung seiner eigenen Orthographie folgendergestalt:


On apprend de Petersbourg, que l'Empereur de Russie voyant que les puissances de l'Europe ne pouvoit s'accorder entre elle et voulant méttre fin à une guerre qui la desoloit depuis onse ans vouloit proposer un lieu ou il inviteroit touts les autres Souverains de se rendre et y combattre en Champ clos ayant avec eux pour écuyer juge de Camp et Heros d'armes leurs ministres les plus éclairés et les generaux les plus habiles tels que Mrs. Thugut, Pitt, Bernstorff, lui même se proposant de prendre avec lui les Generaux C. de Palen et Kutusof, on ne sçait si on doit y ajouter foi, toute fois la Chose ne paroit pas destituée de fondement, en portant l'empréinte de ce dont il a souvent été taxé.


Beim Schlusse lachte er selbst recht herzlich. Auch ich lächelte pflichtschuldigst.

»Warum lachen Sie?« fragte er zweimal schnell hintereinander, immer noch selbst lachend.

»Daß Ew. Majestät so gut unterrichtet sind,« antwortete ich.

»Da, da!« sagte er, indem er mir das Blatt überreichte; »übersetzen Sie das. Behalten Sie das Original, bringen Sie mir aber eine Kopie davon.«

Ich ging und übersetzte. Mit dem letzten Worte – taxé – war ich in einiger Verlegenheit. Sollte ich beschuldigt sagen? Der Ausdruck konnte hart scheinen und den Kaiser verdrießen. Nach langem Hin- und Hersinnen glaubte ich einen Mittelweg einschlagen zu dürfen und übersetzte: »dessen man ihn oft für fähig gehalten«.[269]

Um zwei Uhr nachmittags fuhr ich wieder nach Hofe. Graf Kutajssow meldete mich dem Kaiser. Ich wurde sogleich vorgelassen und fand ihn diesmal ganz allein. »Setzen Sie sich,« sagte er sehr freundlich. Aus Respekt gehorchte ich nicht sogleich. »Nein, nein, setzen Sie sich!« wiederholte er mit einigem Ernst. Ich nahm also einen Stuhl und setzte mich ihm gegenüber an den Schreibtisch.

Er nahm das französische Original in die Hand. »Lesen Sie mir vor.« Ich las langsam und schielte zuweilen über das Papier weg. Bei den Worten »in geschlossenen Schranken kämpfen« lachte er. Übrigens nickte er immer beifällig mit dem Kopfe, bis ich an das letzte Wort kam.

»Fähig gehalten?« sagte er, »nein, das ist nicht das rechte Wort. Taxiert muß es heißen.« Ich nahm mir die Freiheit anzumerken, daß taxieren im Deutschen einen andern Sinn habe. »Sehr wohl!« versetzte er; »aber fähig halten drückt es auch nicht aus.«

Nunmehr wagte ich es, leise anzufragen, ob man vielleicht beschuldigt setzen könne.

»Recht, recht! beschuldigt, beschuldigt!« wiederholte er drei- bis viermal, und ich schrieb, wie er es verlangte. Er dankte mir darauf mit freundlicher Herzlichkeit für meine so geringe Mühe und entließ mich, wahrhaft gerührt und entzückt von seinem liebenswürdigen Betragen. Wer jemals ihm selbst näher gewesen ist, wird mir bezeugen, daß er äußerst einnehmend sein konnte und daß es schwer, ja fast unmöglich war, ihm dann zu widerstehen.

Ich habe es nicht für überflüssig gehalten, diese Begebenheit mit allen kleinen Umständen anzuführen, da sie[270] Aufsehen genug in der Welt gemacht hat. Die Ausforderung erschien zwei Tage nachher zum Erstaunen von ganz Petersburg in der Hofzeitung. Der Präsident der Akademie der Wissenschaften, dem sie zum Einrücken zugesandt wurde, traute seinen Augen nicht. Er fuhr selbst zu dem Grafen von der Pahlen, um gewiß zu werden, daß kein quidproquo zu fürchten sei. In Moskau wurde diese Zeitung sogar von der Polizeibehörde angehalten, weil man sich nicht einbilden konnte, daß es der Wille des Monarchen gewesen sei, diesen Artikel wirklich bekannt zu machen. Eben das geschah auch in Riga. Der Kaiser selbst hingegen konnte es kaum erwarten, ihn gedruckt zu sehen, und schickte ungeduldig mehrere Male danach.

Mir schenkte er drei Tage nachher eine Dose mit Brillanten besetzt, deren Wert nahe an zweitausend Rubel betrug. (Die Zeitung für die elegante Welt gibt fälschlich 4000 Rubel an.) Nie ist wohl die wörtliche Übersetzung von zwanzig Zeilen besser bezahlt worden!

Der Kaiserin erzählte er, daß er meine Bekanntschaft gemacht habe. »C'est à présent un de mes meilleurs sujets,« sagte er. Ich weiß das von einem Manne, der dabei gegenwärtig war. Warum der Kaiser mich nun für einen bessern Untertan hielt als vor meiner Reise nach Sibirien, das weiß ich nicht.

Seit jener Unterredung genoß ich hundert kleine Beweise von des Kaisers Gnade; ja, ich bin ihm nie auf der Straße begegnet, ohne daß er stillgehalten und sich einige Augenblicke freundlich mit mir unterredet hat. Gegen mich ist er bis an seinen Tod sich völlig gleich geblieben, immer wohlwollend, freundlich und edel. Warum sollte ich mich schämen zu gestehen, daß meine Augen schwimmen,[271] indem ich diese Blume der Dankbarkeit auf sein Grab fallen lasse!

Im Januar mußten die französischen Schauspieler Menschenhaß und Reue in der Eremitage spielen. Bekanntlich hatten von jeher in diesen engern Zirkel des Hofes außer den Offizieren von der Garde nur die vier ersten Klassen den Eintritt; der Kaiser machte aber mit mir eine Ausnahme und ließ mich ausdrücklich zu der Vorstellung einladen. Von diesem Augenblick an hatte ich freie Entree, so oft in der Eremitage Schauspiel gegeben wurde.

Daß ich mit klopfendem Herzen in die Vorstellung von Menschenhaß und Reue ging, kann man leicht denken. Dem vortrefflichen Spiel der Madame Valville als Eulalia verdanke ich es wohl vorzüglich, daß der Kaiser tief gerührt wurde. Der mehr als siebzigjährige Aufresne, dessen Name auch in Deutschland rühmlich bekannt ist, spielte den Greis. Der Kaiser hatte seinen Platz dicht hinter dem Orchester, und es war mir auffallend, daß während der ganzen Vorstellung ein Gardist von der Malteser-Garde hinter seinem Sessel stehen mußte.

Um eben diese Zeit wünschte der Kaiser Haydns Schöpfung zu hören und ersuchte mich, sie ins Französische zu übersetzen. Nur der kann diese Arbeit würdigen, der mit den Schwierigkeiten einer solchen der Musik angepaßten Übersetzung bekannt ist. Noch saurer wurde sie mir durch die allzugroße Pünktlichkeit und Genauigkeit des wackern alten Sarti, der meine Worte der Musik unterlegen mußte und immer von kurzen und langen Silben sprach, da doch bekanntlich die französische Sprache weder kurze noch lange Silben hat. Indessen war die Arbeit beinahe glücklich vollendet und in den[272] Fasten sollte die Musik aufgeführt werden; der Kaiser erlebte es aber nicht.

Hätten nicht – trotz dem Wohlwollen und der Auszeichnung meines Chefs, des Herrn Oberhofmarschalls Naryschkin, dessen Behandlung ich dankbar rühmen mußtausend Armseligkeiten mir die Direktion des Theaters verleidet, so dürfte ich behaupten, in jener Zeit ein glückliches Leben geführt zu haben; denn ich hatte mir einen kleinen angenehmen Zirkel gebildet und einige Freunde erworben: einige nur, aber sie konnten für viele gelten. Ich nenne unter ihnen den Kollegienrat Storch, der jedem gebildeten Deutschen als Schriftsteller bekannt ist, den ich aber noch überdies als einen sehr edlen, gefühlvollen Menschen achte; ferner den wackern Etatsrat Suthoff mit seiner liebenswürdigen Gattin; den anspruchslosen Etatsrat Welzien mit seiner trocknen, eigentümlichen Laune. Wir hielten zusammen eine Art von Kränzchen, in welchem ich Stunden genossen habe, deren Andenken mich noch lange mit froher Wehmut erfüllen wird. O, ich weiß, auch diese meine Freunde werden meiner in ihrem traulichen Zirkel noch oft gedenken!

Doch auch die lästige Theaterdirektion wurde mir plötzlich durch einen Zufall auf die angenehmste Weise erleichtert. Der Kaiser hatte nämlich seinen neuen berühmt gewordenen Michailowschen Palast vollendet und lebte und webte nun in diesem, gleichsam durch den Schlag einer Zauberrute hervorgegangenen Feenschlosse, welches, der Angabe nach, zwischen fünfzehn und achtzehn Millionen Rubel gekostet haben soll. Er verließ den weit bequemern und gesündern sogenannten Winterpalast, um sich zwischen feuchte, dicke Mauern einzusperren,[273] an welchen das Wasser herabfloß. Mehrere Male mußten die Leibärzte die neue Wohnung prüfen, und mehrere Male warnte ihr Ausspruch. Sie wurden aber so oft und so lange wieder dahin geschickt, bis sie endlich wohl einsahen, man wolle nun einmal ein anderes, günstigeres Urteil, und mit Achselzucken nachgaben. Der Kaiser bezog also die gifthauchende Wohnung mitten im Winter, und es gefiel ihm darin außerordentlich. Es machte ihm Freude, seine Gäste selbst herumzuführen und ihnen die Schätze von Marmor und Bronze, die er aus Rom und Paris hatte kommen lassen, zu zeigen. Das überströmende Lob, mit welchem natürlicherweise die geringste Kleinigkeit bis in den Himmel erhoben wurde, und die ewige Wiederholung des Ausrufs, daß dergleichen nirgends in der Welt existiere, erregten endlich bei ihm den Gedanken, eine Beschreibung von diesem achten Wunderwerke der Welt verfertigen zu lassen. Auf eine sehr schmeichelhafte Weise trug er mir diese Arbeit auf. Mehr als einmal sagte er mir selbst, daß er etwas Außerordentliches von mir erwarte, und setzte mich durch diese Äußerung in eine nicht geringe Verlegenheit. Aus seiner eigenen Bibliothek erhielt ich Nicolais Beschreibung von Berlin und Potsdam, und er äußerte dabei den Wunsch, daß ich meinen Gegenstand geradeso, nur womöglich noch etwas weitläuftiger behandeln möchte.

Natürlicherweise fügte ich mich sogleich in sein Verlangen, gestand aber auch, es fehle mir an manchen zu dieser Arbeit notwendigen Kenntnissen; ich wisse die Schönheit der Baukunst, der Gemälde, der Statuen nicht kunstgerecht zu beurteilen und bitte daher um die Erlaubnis, mir kunsterfahrne Männer in diesen Fächern[274] zugesellen zu dürfen. Diese Erlaubnis wurde mir sogleich bewilligt. Ich schlug für die Antiken den berühmten Herrn Hofrat Köhler vor, welcher die Aufsicht über die in der Eremitage befindlichen Kunstschätze hat und ein ebenso erfahrner als guter, gefälliger Mann ist. Für die Baukunst erbat ich mir den römischen Architekten Brenna und für die Malerei die geschickten und liebenswürdigen Herren Gebrüder Kügelgen.

Der Monarch gestand mir freundlich jede Hülfe zu und erteilte Befehl, mich jederzeit und überall im Schlosse einzulassen. Der Herr Oberhofmarschall als Schloßhauptmann führte mich selbst zum ersten Mal im ganzen Palast umher, und ich ging nun mutig an die Arbeit.

Täglich vormittags, nachmittags und oft bis spät abends brachte ich jetzt meine Zeit im Michailowschen Palaste zu. Es verging fast kein Tag, an welchem der Kaiser mir nicht hier oder dort begegnete, wenn ich mit meiner Schreibtafel in der Hand die mannigfaltigen Gegenstände aufzeichnete; und jedes Mal blieb er bei mir stehen, um sich einige Augenblicke mit der einnehmendsten Freundlichkeit mit mir zu unterhalten, auch wohl mich zu ermahnen, daß ich ja nichts obenhin, sondern alles recht ausführlich beschreiben möchte.

Unter diesen Umständen nun glaubte ich es wagen zu dürfen, um meinen Abschied als Direktor des Deutschen Hoftheaters zu bitten. Es war am 8ten Februar, als ich diese Bitte schriftlich meinem Chef überreichte. Er hatte die Güte, manche sehr schmeichelhafte Einwendung dagegen zu machen; und als ich auf meinen Vorsatz bestand, verschob er es wenigstens auf unbestimmte Zeit. Nach einigen Tagen erinnerte ich ihn abermals, und ich wurde nicht müde, diese Erinnerungen so oft zu wiederholen,[275] bis ich deutlich merkte, daß sie mir zu nichts helfen würden. Nun schlug ich einen andern Weg ein, um mir das lästige Theaterwesen wenigstens zu erleichtern. Ich stellte nämlich vor, daß es mir bei meinem ununterbrochenen Arbeiten im Michailowschen Palaste durchaus unmöglich sei, noch die erforderliche Zeit auf das Theater zu verwenden, und daß ich daher, wenn mir mein Abschied verweigert werde, doch wenigstens um einen Gehülfen bitten müsse. Diese Bitte wurde mir gern zugestanden und die Wahl eines Gehülfen mir selbst überlassen. So erhielt ich endlich in der Person eines meiner lieben Freunde einen Regisseur, dem man ein Gehalt von 1500 Rubeln und den Betrag einer Benefiz-Komödie zusicherte. Auf seine Schultern konnte ich nun in Zukunft die drückendste Last werfen und mir tausend Ärgernisse ersparen.

Die Beschreibung des Michailowschen Palastes war bei dem Tode des Kaisers ihrer Vollendung nahe.

Am 11ten März mittags gegen ein Uhr, also etwa zwölf Stunden vor Kaiser Pauls Tode, sah und sprach ich ihn zum letzten Male. Er kam mit dem Grafen Kutajssow von einem Spazierritte nach Hause und schien sehr heiter zu sein. Auf der Paradetreppe, gerade neben der Statue der Kapitolinischen Kleopatra, begegnete ich ihm. Seiner Gewohnheit nach blieb er bei mir stehen und machte diesmal die erwähnte Bildsäule zum Gegenstande des Gespräches. Er rühmte die Kopie, untersuchte die verschiedenen Marmorarten des Piedestals, fragte mich um deren Benennungen, ging dann über auf die Geschichte der ägyptischen Königin, bewunderte ihren heldenmütigen Tod, schien mir aber lächelnd Beifall zu geben, als ich meinte, sie würde sich schwerlich getötet[276] haben, wenn Augustus ihre Reize nicht verschmäht hätte. Endlich fragte er mich noch, ob meine Beschreibung des Palastes weit vorgerückt sei. Als ich ihm sagte, sie sei beinahe vollendet, verließ er mich freundlich mit den Worten: »Ich freue mich darauf.«

Ich sah ihm nach, wie er die Treppe hinaufstieg; auch er sah oben an der Tür noch einmal zu mir herunter. Uns beiden ahnte wohl nicht, daß wir uns zum letzten Male gesehen hatten. Die Stelle neben der Kleopatra ist mir durch diese letzte Unterredung mit dem Kaiser sehr merkwürdig geworden, und mehr als einmal habe ich nach seinem Tode dort mit Wehmut verweilt.

Am 12ten März sehr früh verbreitete sich die Nachricht von der Thronbesteigung des jungen liebenswürdigen Monarchen. Schon um 8 Uhr huldigten ihm die Großen des Reiches in der Kirche des Winterpalastes. Das Volk überließ sich einem fröhlichen Jubel, da die Milde des neuen Beherrschers es zu den schönsten Hoffnungen berechtigte. Abends war Petersburg erleuchtet.

Die ersten Schritte Alexanders, sein Manifest, seine ersten Verordnungen, alles befestigte das Vertrauen, mit welchem die hoffenden Untertanen ihn den väterlichen Thron besteigen sahen. Er versprach feierlich, in dem Geiste seiner glorreichen Großmutter, Katharinen der Zweiten, zu regieren. Er erlaubte jedem, sich wieder nach seiner Phantasie zu kleiden. Er erließ den Einwohnern von Petersburg die lästige Pflicht, jedes Mal aus dem Wagen zu steigen, so oft ein Mitglied der kaiserlichen Familie ihnen begegnete. Er verabschiedete den mit Recht verhaßten Generalprokureur Obuljaninow. Er hob die Geißel des Landes, die Geheime Expedition, auf. Er gab dem Senat sein altes Ansehen wieder. Er[277] entließ die Staatsgefangenen aus der Festung. O, es war ein rührender Anblick, diese Befreiten zu sehen, die mit starrer Verwunderung, ihrem Glücke noch kaum trauend, umher wankten!

Schon lange drückt es mir das Herz, dem Leser auch meine größte Freude in den ersten Tagen der Regierung Alexanders des Milden mitzuteilen. Die Aufzeichnung meiner Geschichte hat mir manche froh-wehmütige Erinnerung gegeben; jetzt komme ich zu einer der frohesten. Auf Befehl des jungen Monarchen ließ der Senat drei Verzeichnisse von den Namen der Verbannten drucken, die aus Sibirien zurückberufen wurden. Kaum erfuhr ich das, als mein Bedienter schon hinlaufen mußte, mir diese Liste zu verschaffen. Mit welcher Eil durchlief sie mein Auge, bis es – durch eine Freudenträne verhüllt – auf dem Namen Sokolow ruhte! Ja, auch er ist frei; in dem Augenblicke, da ich dieses schreibe, hat er seine Frau und seine Kinder schon wieder an das Vaterherz gedrückt. Möge er nur gleich mir sie alle sechs wiedergefunden haben, möge von dem schweren Traum ihm nichts übrig bleiben als dann und wann eine freundschaftliche Erinnerung an mich, seinen Leidensgefährten!

Auch Herrn von Kinjakow und seine Brüder, auch den Kaufmann Becker aus Moskau und mehrere andre meiner Bekannten sah ich auf dieser Liste des Lebens. Ich zeichne unter ihnen den Pastor S** als den merkwürdigsten aus.

S** war Prediger in der Gegend von Dorpat und hielt zugleich für die Einwohner seines Kirchspiels eine kleine Lesebibliothek. Tumanski, der wachsame Zensor in Riga, verlangte beim Antritt seines Amtes von S** ein[278] Verzeichnis dieser Lesebibliothek. S**, den die Zeichen der Zeit sehr furchtsam machten, antwortete ihm, er habe sein Institut ganz aufgegeben. Dies zu tun war auch wirklich sein Vorsatz; er zog die noch zirkulierenden Bücher nach und nach ein und es gelang ihm bis auf einige wenige. Unter diesen war auch ein Band von Lafontaines Gewalt der Liebe. Er konnte sich nicht erinnern, wem er diesen Band geliehen hätte, und wollte ihn doch nicht gern einbüßen. Daher versuchte er das gewöhnliche Mittel, durch das Dorpatsche Wochenblatt bekannt zu machen, »daß derjenige, der Lafontaines Gewalt der Liebe noch aus seiner Lesebibliothek habe, hierdurch ersucht werde, ihm das Buch zurückzuliefern«. Diese Anzeige fiel unglücklicherweise Herrn Tumanski in die Hände. Man versichert, daß es nicht sowohl seine Absicht gewesen sei, dem Pastor S** zu schaden, als vielmehr dem redlichen Generalgouverneur von Livland, Nagel, gegen den er um einer vermeintlichen Beleidigung willen einen höchst kleinlichen Groll nährte, einen Verweis zuzuziehen. Er rapportierte also den Vorfall, reichlich mit giftigen Anmerkungen begleitet, an seinen Gönner und Beschützer, den Generalprokureur Obuljaninow, der ihn, abermals mit eigenen Zusätzen ausgestattet, dem Kaiser vorlegte. Es hieß, Pastor S** habe trotz der Warnung des Zensors seine Lesebibliothek fortgesetzt und suche durch verbotne jakobinische Schriften – wohl zu merken, es existierte kein Katalog verbotner Bücher! – in seinem Zirkel gefährliche Grundsätze zu verbreiten. Alles dies wurde dem Monarchen in einem so übeln Gesichtspunkte vorgestellt, daß er auf der Stelle befahl, den Pastor S** zu arretieren und nach Petersburg in die Festung zu bringen; vorher aber solle Tumanski[279] mit einem Kommando Soldaten seine Wohnung umgeben und alle seine Bücher öffentlich verbrennen.

Als Tumanski zu dieser erwünschten Kommission von Riga abreiste, wurde er noch von mehreren Menschenfreunden gebeten, doch ja alles, was in seinen Kräften stehe, zur Rettung der unglücklichen Familie anzuwenden. Er versprach es, hielt aber nicht Wort, wie ohnehin zu erwarten war. Mitten in der Nacht umgaben Soldaten unter Anführung des edlen Tumanski das Haus des Predigers, der ruhig mit Frau und Kindern schlummerte. Man denke sich sein und ihr Erwachen! Alle Zugänge sind besetzt; seine Papiere werden inventiert und versiegelt; alle seine Bücher, sogar Bibel und Gesangbuch, auf einen Haufen geschleppt und verbrannt. Der unglückliche Mann wird in ein Kibitken geworfen und ein Polizeioffizier fährt mit ihm davon.

Als er sich gegen Morgen ein wenig von der ersten Betäubung erholt hat, bittet er seinen Begleiter um Erlaubnis, einige Worte an seine Frau schreiben zu dürfen. Der Falsche erlaubt es ihm, stellt sich auch, als ob er den Brief selbst auf die Post besorge, steckt ihn aber zu sich und überliefert ihn dem Generalprokureur. Der Inhalt dieses Briefes war außer sehr natürlichen Klagen eine Bitte an seine Frau, die Bauern vorläufig bis zu seiner Rückkehr zu beruhigen. Hieraus schloß man, er habe die Bauern bereits aufgewiegelt, und sie warteten nur auf die Rückkehr ihres Anführers, um loszubrechen. Andere behaupten auch, er habe seine Frau ersucht, eine gewisse Korrespondenz zu verbrennen, die er vor mehreren Jahren mit einem Freunde über die Begebenheiten der Französischen Revolution geführt hatte. Es sei auch sogleich ein Feldjäger mit Ketten zu diesem Freunde geschickt[280] worden, der aber glücklicherweise schon seit mehreren Jahren nicht mehr gelebt habe.

Dem sei wie ihm wolle, die Sache wurde durch den von menschlichen Gefühlen nichts wissenden Obuljaninow dem Monarchen so vorgestellt, daß dieser augenblicklich an das Justizkollegium den Befehl erließ, dem Prediger S** Leibesstrafe zuzuerkennen und ihn dann nach Sibirien in die Bergwerke zu schicken. Das Justizkollegium befand sich natürlicherweise in einer nicht geringen Verlegenheit. Das Urteil, welches doch eigentlich erst nach der Untersuchung und nach Prüfung der Akten gefällt werden sollte, war ihm bereits vorgeschrieben. Hierdurch wurde das Kollegium gleichsam in ein bloßes forum executivum verwandelt. Der Präsident wagte eine Vorstellung deshalb an den Generalprokureur, der ihm aber ganz trocken antwortete: er möge auf seine eigne Gefahr tun, was ihn gut dünke; den Willen des Kaisers wisse er.

Dem armen S**, dem man keinen Verteidiger gestattete, wurde daher eines Morgens in der Festung angekündigt, daß er seinen Predigerornat anlegen und dem Herrn von Makarow in das Justizkollegium folgen solle, wo man ihm sein Urteil publizieren werde.

Voll froher Hoffnung – die er zum Teil aus dem Umstände schöpfte, daß man die Anlegung des Ornats ausdrücklich von ihm verlangte – fuhr er seinem Schicksal entgegen. In dem Gerichtssaale stellte man ihn an die Wand. Der Sekretär las das Urteil vor. Als er an die Worte kam: »Der Pastor S** soll seines Amtes entsetzt, Mantel und Kragen ihm abgerissen werden; er soll zwanzig Streiche mit der Knute bekommen und dann in Ketten in die Bergwerke von Nertschinsk zur Arbeit[281] transportiert werden« – da verließen den Unglücklichen die Sinne. Er bewegte erst mehrere Male den Kopf krampfhaft, wie in einem Zirkel; dann stürzte er gerade vor sich nieder. Man eilte ihm zu Hülfe; er kam wieder zu sich, hob sich auf die Knie und flehte, daß man ihn hören möchte.

»Hier ist nicht der Ort dazu!« sagte der Prokureur. »Wo ist denn der Ort?« rief der Unglückliche mit einer gräßlichen Stimme, »dort, dort oben im Himmel!«

Man schleppte ihn nun in ein gemeines Gefängnis. Ganz Petersburg nahm teil an seinem Schicksal. Alles bat für ihn; sogar die russische Geistlichkeit, der dieser Zug zu großer Ehre gereicht. Der Graf von der Pahlen gewann damals die Herzen aller Einwohner, indem er alles aufbot, was in seinen Kräften stand, um den Unglücklichen zu retten. Vergebens! Obuljaninow hatte sein Opfer zu gut gefaßt. S** wurde öffentlich zur Knute hinausgeführt. Auf dem halben Wege hieß man ihn noch einmal umkehren, um das Abendmahl aus der Hand des Pastors Reinbott zu empfangen. Dann trat er den schweren Gang zum Richtplatz aufs neue an.

Schon war er mit beiden Armen an den Pfahl gebunden und zur Exekution entblößt, als ein Offizier hinzutrat und dem Knutmeister etwas ins Ohr raunte. Sluschu (ich höre), antwortete dieser ehrerbietig; und nun schwang er die Knute zwanzigmal, doch ohne auch nur einmal den Ohnmächtigen zu treffen: denn immer ließ er die Streiche geschickt an der Kleidung hinabgleiten. Es war sichtbar, daß irgendein mächtiger Menschenfreund, der den unschuldigen Mann von der Schmach nicht retten konnte, ihm durch sein Ansehen wenigstens die Schmerzen ersparte.[282]

Der Pastor S** wurde nun in das Gefängnis zurückgeführt. Seine Abreise nach Sibirien hielt der Graf Pahlen unter dem Vorwande von Krankheit so lange als möglich auf und hatte deshalb sogar einige heftige Explikationen mit dem Generalprokureur. Der Kaiser drang indessen auf den Rapport, daß das Urteil gänzlich vollzogen sei, und der Unglückliche mußte seine Ketten Schritt für Schritt nach Nertschinsk schleppen. Seine Gattin wollte ihm einige Zeit nachher folgen, konnte aber die Erlaubnis dazu nicht auswirken.

Doch nun ist auch er wieder frei. Als ich Petersburg verließ, erwartete man täglich seine Rückkehr, und gewiß wird der gerechte junge Monarch seine Ehre und sein Glück wieder herstellen.

Wenige Tage nach dem Tode Kaiser Pauls gab Fürst Zubow in einem öffentlichen Hause ein Diner, zu welchem nahe an hundert Personen eingeladen waren. Er bezahlte dem Speisewirt, wie man versichert, fünfundzwanzig Rubel für die Person, das Getränk ungerechnet, welches zum Teil aus vierhundert Bouteillen Champagner, jede zu fünf Rubeln, bestand. Ich würde dieses fürstlichen Schmauses übrigens nicht erwähnen, wenn nicht ein echt fürstlicher Zug ihn ausgezeichnet hätte. Beim Klange der Pokale nämlich erinnerte man sich des unglücklichen Pastors S**; man eröffnete auf der Stelle eine Subskription für ihn und brachte eine sehr ansehnliche Summe – wie einige behaupten, 10000 Rubel – zusammen.

Ob das Justizkollegium durch den Befehl des Kaisers, »auf Leibesstrafe zu erkennen«, eben genötigt wurde, die empfindlichste Gattung der Leibesstrafe, die Knute, zu wählen, das bezweifeln viele Rechtsverständige.[283] Übrigens wird es dem Leser gewiß wohl tun zu vernehmen, daß Herr Tumanski, seit mehreren Jahren die Geißel von Riga, seine Rolle auf eine jämmerliche Weise geendigt hat. Wütend über die Verachtung, mit der man ihm überall begegnete, unternahm er es endlich, das ganze biedre Riga zu stürzen. Er schrieb an den Kaiser, daß alle Einwohner dieser Stadt Jakobiner wären, und schickte ihm eine lange Liste, auf welcher die Namen der edelsten Bürger und Staatsbeamten zu finden waren, mit dem würdigen alten Generalgouverneur Nagel an der Spitze.

Als der geradsinnige Monarch dieses Pasquill gelesen hatte, urteilte er, doch allzu gelinde, »Tumanski sei verrückt«, und entsetzte ihn seines Amtes. Als ich im Junius dieses Jahres durch Riga kam, lebte er noch daselbst, aber in Armut und Verachtung, durch Beiträge von eben den edlen Bürgern unterstützt, die er so oft höchst unglücklich zu machen versucht hatte. So ist endlich die Gerechtigkeit, welche man sonst die poetische zu nennen pflegt, an diesem Unhold in der Wirklichkeit ausgeübt worden! Freilich noch viel zu gelinde für die unzähligen Seufzer und Tränen, die er während der Verwaltung seines Amtes auf sich geladen hat.

Der Tod des Monarchen öffnete mir aufs neue die frohe Aussicht, in mein Vaterland zurückkehren zu dürfen. Ich beschloß, sobald es nur irgend schicklich wäre, den jungen, mit Staatsgeschäften überhäuften Kaiser mit einer solchen Kleinigkeit zu behelligen – um meinen Abschied zu bitten. Am 30sten März führte ich diesen Entschluß aus, indem ich ihn dem Generaladjutanten, Fürsten Zubow, schriftlich mitteilte. Am 2ten April erhielt ich durch denselben Weg die schmeichelhafte Antwort,[284] der Kaiser wünsche mich in seinen Diensten zu behalten.

Diese Güte, diese Ehre mußten es mir natürlicherweise sehr schwer machen, meinen Vorsatz auszuführen. Dankbar gerührt erklärte ich demnach: daß ich mich glücklich schätzen würde, Alexandern dem Liebenswürdigen und Geliebten zu dienen; daß es aber bei der jetzigen Beschaffenheit des Deutschen Hoftheaters mir nicht zieme, an der Spitze desselben zu stehen. Wenn es daher dem Kaiser gefällig sei, eine günstige Veränderung damit vorzunehmen, wenn er es von einem Titulär-Hoftheater zu einem wirklichen erheben und es in allen Stücken dem französischen gleichstellen wolle, so würde ich mit Freuden alle meine Kräfte anstrengen, um die Deutsche Bühne des Beifalls des Hofes würdig zu machen.

Hierauf erhielt ich den Befehl, einen Plan zu Vervollkommnung des Deutschen Hoftheaters einzureichen. Ich gehorchte. Dieser Plan, den es irgendeinem Unkundigen oder Übelwollenden in der Hamburgischen Zeitung gigantesk zu nennen beliebt hat, war mit der möglichsten Sparsamkeit berechnet. Anstatt daß die Französische Bühne jährlich bloß an Besoldungen über hunderttausend Rubel kostet, machte ich mich verbindlich, für sechzigtausend Rubel eine Gesellschaft zu unterhalten, welche mit der französischen wetteifern könne. Es scheint daher, der Einsender jener Zeitungsnachricht sei entweder kein Deutscher oder doch den Deutschen sehr abhold gewesen, da er es gigantesk finden konnte, daß ich für die armen Deutschen etwas über die Hälfte von dem Gehalte forderte, den die Franzosen bekamen.[285]

Der Kaiser übergab den Plan zur Prüfung dem Oberhofmarschall, der ihn gut und zweckmäßig fand.

»Wieviel wird nach diesem Plan das Deutsche Theater mich kosten?« fragte der Monarch.

»Sechzigtausend Rubel jährlich.«

»Und wieviel hat es bis jetzt gekostet?«

»Nichts.«

Über diese Antwort mußte der Kaiser natürlicherweise stutzen. Sie war in gewisser Hinsicht wahr. Ich hatte, von Eifer und Ehrgeiz getrieben, durch Fleiß und Anstrengung bewirkt, daß die Einnahme in dem verflossenen Winterhalbjahre bis auf 32000 Rubel gestiegen war, und von dieser Summe hatte ich alle Kosten bestritten. Aber der Herr Oberhofmarschall vergaß, daß in den sieben Wochen der Fasten gar keine und im Sommer nur eine sehr geringe Einnahme stattfand; daß überdies das Theater höchst mittelmäßig war und sehr großer Verbesserungen bedurfte. Von dem Monarchen konnte man freilich nicht erwarten, daß er sich auf dieses kleine Detail einlassen sollte, umso weniger, da dessen gar nicht erwähnt wurde. Was Wunder also, daß er die Summe zu hoch fand!

Ich war mit der Stimmung für das Deutsche Theater hinlänglich bekannt, folglich auf diesen Fall vorbereitet und hatte – wenn der Kaiser meinen Plan nicht genehmigte – die abermalige Bitte um meinen Abschied hinzugefügt. So erhielt ich denselben endlich in den gnädigsten Ausdrücken und wurde zu gleicher Zeit zum Kollegienrat befördert.

So also verhält es sich mit meinem Abschied aus Russisch-Kaiserlichen Diensten, von welchem dem Einsender der Zeitungsnachricht sehr hämisch zu sagen beliebt:[286] man wisse nicht recht, ob ich ihn genommen oder bekommen habe. In Petersburg wußte man das sehr wohl. Nur schade, daß es Menschen gibt, denen trotz besseren Wissens der Neid immer einen andern Glauben aufdringt!

Am 29sten April verließ ich mit meiner Familie Petersburg, durchdrungen von Dank für den verstorbenen sowohl als für den lebenden Monarchen. In Jewe verweilten wir noch einige Wochen bei dem Probst Koch und seiner edlen Familie. Von ihren echt freundschaftlichen Wünschen begleitet, setzten wir unsere Reise fort bis nach Wolmershof, einem von den Landgütern des biedern Barons Löwenstern, wohin ein paar herzliche Zeilen uns eingeladen hatten.

O, wie klopfte es mir in der Brust, als wir uns dieser Wohnung der Rechtschaffenheit und des Edelmutes näherten! Endlich war einer meiner heißesten Wünsche erfüllt: ich sollte die Frau wiedersehen, die in dem bängsten Augenblick meines Lebens mir Hülfe sandte, so viel sie vermochte. Wie sehnte ich mich danach, ihre Hand an meine Lippen, an mein Herz zu drücken. Ich sollte jetzt auch den Jüngling wiedersehen, dessen Tränen um mich flossen und der mit Bruderliebe mir mein schweres Schicksal zu erleichtern strebte.

Die erste Person, die mir aufstieß, als ich aus dem Wagen sprang, war – der Kammerherr von Beyer. Welch ein Gemisch und Gewühl von Empfindungen durchkreuzte meine Seele bei seinem Anblick! Gleich darauf erschien auch Frau von Löwenstern. Ich wußte ihr nichts zu sagen; aber die dankbare Träne in meinem Auge hat gewiß für mich gesprochen. Unruhig blickte ich nach ihrem wackern Sohn umher; er eilte in meine Arme,[287] und ich drückte ihn mit brüderlicher Liebe an mein Herz. O, wie süß ist die Erinnerung an überstandne Leiden im Kreise teilnehmender Freunde!

Ich bekam hier noch manchen kleinen Aufschluß über den Teil meiner Geschichte, bei welchem jene gute Menschen mit intressiert waren. Die Briefe, die ich auf Stockmannshof schrieb, hatte der Kammerherr von Beyer sämtlich an den braven Gouverneur von Riga gesandt, doch – wie ich schon vorher vermutete – mit Ausnahme des einen, an den Grafen Cobenzl gerichteten, weil der mir nur schaden konnte. Der Gouverneur hatte ohne Bedenken sie sämtlich an den Kaiser befördert, der im ersten Augenblicke über meine Entweichung höchst erzürnt wurde und ihm zurückschrieb: er solle den Kammerherrn von Beyer augenblicklich nach der Stadt bescheiden und ihm einen derben Verweis dafür geben, daß er sich unterstanden habe, einen Staatsgefangenen Briefe schreiben zu lassen. Dieser Verweis, der einen Lobspruch für das Herz des Herrn von Beyer enthielt, wurde wirklich er teilt; man kann aber denken, wie sehr der Ton des menschenfreundlichen Gouverneurs dessen Strenge gemildert haben wird.

Ich erfuhr ferner, daß mein Hofrat dem Kammerherrn von Beyer wirklich seine Instruktion vorgezeigt hatte und daß es daher allerdings gefährlich gewesen sein würde, sich lebhafter, als es geschehen ist, für mich zu interessieren. Den klugen und kühlen Herrn Prostenius versuchte Herr von Beyer zu verteidigen. Ich kann nicht dafür, daß mein Gefühl allen seinen Gründen widersprach.

Den Hofrat hatte man damals allgemein für einen guten Menschen gehalten und das Beste von ihm erwartet.[288] Dieser Irrtum war mir nicht auffallend; denn nie habe ich so viel Roheit mit so vieler Verstellungskunst vereinigt gesehen. Kam er doch, als er bei seiner Rückkehr aus Sibirien meine nahe Befreiung erfahren hatte, augenblicklich kriechend zu meiner Frau und versicherte dieser: wir wären die besten Freunde; wir hätten unterwegs als Brüder zusammen gelebt! Kam er doch, als er erfuhr, daß Kaiser Paul mich auszeichnete, oft sogar auch zu mir und machte mir auf eine niedrige Weise den Hof. Sein bloßer Anblick war mir jedes Mal ein Stich in das Herz. Das mochte er denn endlich merken und blieb weg.

Nach kurzer auf Wolmershof sehr glücklich verlebter Zeit gingen wir weiter nach Riga, wo uns neue, nicht weniger zarte Freuden erwarteten. Zwar fand ich den biedern Gouverneur von Richter nicht dort, weil leider Krankheit ihn auf dem Lande zurückhielt; aber mein guter gefühlvoller Freund Eckardt und der edle Arzt Stoffregen empfingen meinen gerührten Dank. In dem paradiesischen Graffenheyde, der ländlichen Wohnung des erstern, brachten wir einige sehr frohe Tage zu und verließen es endlich segnend und gesegnet.

Hier erfuhr ich unter anderm, daß ein Brief, den meine unglückliche Frau an die Frau Herzogin von Weimar geschrieben hatte, von dem Postdirektor gleichfalls an den Kaiser gesandt worden sei; daß dieser ihn gelesen, aber auf der Stelle mit dem Befehle zurückgeschickt habe, ihn vorsichtig wieder zu versiegeln und an die Adresse abgehn zu lassen. Meine Freunde hatten aus diesem Umstände günstige Hoffnungen gezogen, und gewiß ist es, daß dieser Brief, von dem ich eine Abschrift besitze, keine andre als eine heilsame Wirkung auf das empfängliche[289] Herz des Monarchen hervorbringen konnte. Vielleicht verdanke ich also meine Befreiung zum Teil derjenigen Person, der ich sie am liebsten verdanke: meiner guten Frau!

In Mitau fanden wir den Herrn Gouverneur von Driesen nicht mehr; er war abgesetzt. Leider war das auch der Fall mit dem wackern Hofrat Sellin, dem vormaligen Chef des Grenz-Zollamtes. Ihn sah ich nicht; wohl aber den Offizier, der mich bis Mitau begleitet hatte, den Herrn Leutnant von Bogeslawski. Er empfing mich als einen alten Freund; wir mußten bei ihm frühstücken. O, wie gegenwärtig wurde uns hier wieder die Szene meiner Verhaftung! Aber welch eine Wohltat der Natur, daß die Erinnerung an überstandne Leiden denselben Genuß gewährt – und vielleicht einen größern – als die Erinnerung an Freuden der Vergangenheit. Ich erkundigte mich nach dem höflichen Kosaken, der damals auf unserm Kutschbocke saß, und wollte ihn beschenken; er war aber gerade nicht gegenwärtig.

Als wir nun weiter fuhren – als wir das Wachthaus passierten – der Schlagbaum hinter uns fiel – und bald darauf der Preußische Adler uns winkte – o, warum sollte ich mich schämen zu gestehen, daß ich in Tränen ausbrach, die ich, von meiner guten Frau innig umarmt, an ihrem Herzen sanft verweinte. Nicht etwa, als ob ich nun erst des Gefühls der Rettung recht froh geworden wäre – o nein, der Name Alexander ist jedem unbescholtenen Manne Bürge für seine Sicherheit – aber es war ein Gemisch von mancherlei starken Gefühlen, welche mir jene süßen Tränen auspreßten. Der Anblick des Schauplatzes meiner Leiden – die Vergegenwärtigung jener Szenen – die Erinnerung an die unwillkürliche[290] Bangigkeit, mit der ich ein Jahr vorher denselben Weg fuhr – der Kontrast mit meiner jetzigen Empfindung – die glückliche, so wenig gehoffte Wendung meines Schicksals – der Dank gegen Gott, daß ich alle meine Lieben wieder bei mir und um mich hatte – daß der böse schwere Traum in ein so fröhliches Erwachen übergegangen war – alles das stieg mir aus dem Herzen in die Augen, und mit feierlicher unnennbarer Wehmut begrüßte ich die Staaten Friedrich Wilhelms des Dritten. Es war mir, indem ich seine Grenze betrat, als wäre ich schon in meinem Vaterlande.

In Königsberg fand ich den Grafen Kutajssow, den Liebling und täglichen vertrauten Gesellschafter des Kaisers Paul. Wenn irgend jemand mir Aufschluß über die Ursachen meiner Verbannung geben konnte, so war er es. Ich kannte ihn schon lange, aber freilich zu einer Zeit, wo es unschicklich gewesen sein würde, eine mich betreffende Frage an ihn zu richten. Was ich in Petersburg nicht wagte, das durfte ich hier ohne Bedenken tun. Ich äußerte ihm daher den Wunsch, zu wissen: was eigentlich den Kaiser zu einem so außerordentlichen Verfahren gegen mich bewogen. Er antwortete mir mit unverdächtiger Offenheit: daß durchaus keine eigentliche Ursache dazu vorhanden, sondern daß ich dem Monarchen bloß als Schriftsteller verdächtig gewesen sei. »Sie haben aber gesehen,« setzte er hinzu, »wie schnell und wie gern er von einem Irrtum zurückkam. Er liebte Sie; er bewies es Ihnen täglich und würde es Ihnen in der Folge noch mehr bewiesen haben.«

So ruhe denn sanft die Asche eines Mannes, der wahrlich den größten Teil der Schuld, deren man ihn anklagt, auf seine dornige Lage in früheren Jahren, auf die Begebenheiten[291] seines Zeitalters und auf die Personen, welche ihn umgaben, zurückwerfen könnte; der sich zwar oft in den Mitteln vergriff, das Gute zu bewirken, der aber immer nur das Gute, das Gerechte wollte, ohne Ansehen der Person; der zahllose Wohltaten säte, doch aus dem Samen nur giftige Pflanzen aufschießen sah, die bunt um ihn her blühten und in deren Duft er verwelkte!

Ich schließe mit einigen Versen, die wenige Tage nach des Kaisers Tode in Petersburg gelesen wurden. Den Verfasser kenne ich nicht; aber seine Schilderung trägt den Stempel der Wahrheit:


On le connut trop peu, lui ne connut personne;

Actif, toujours pressé, bouillant, impérieux,

Aimable, séduisant, même sans la couronne,

Voulant gouverner seul, tout voir, tout faire mieux,

Il fit beaucoup d'ingrats – et mourut malheureux![292]

Quelle:
Kotzebue, August: Das merkwürdigste Jahr meines Lebens. München 1965, S. 264-293.
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Das merkwürdigste Jahr meines Lebens. Als Verbannter in Sibirien

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