[9] Natalie. Dann Mehlmeyer.
NATALIE schreibend. Miete für einen Monat: 24 Mark – Frühstück: 6 Mark. Nun die Auslagen. Schlägt das Notizbuch auf. Es klopft an der Türe links. Klopfte da nicht jemand? Es klopft wieder. Das ist an Herrn Mehlmeyer's Tür. Herein!
Mehlmeyer tritt von links ein. Er trägt ein Nachthemd ohne Kragen und Manschetten, er hat den Rock bis an den Hals zugeknöpft und sucht zu verbergen, daß er noch nicht Toilette gemacht hat. Mehlmeyer hat ein dünnes Schnurrbärtchen und lange blonde Haare, die ihm öfters über die Stirn ins Gesicht fallen; er wirft die Haare dann mit einer raschen Kopfbewegung zurück. Fast unaufhörlich trällert er Melodien und Passagen vor sich hin, auch bewegen sich seine Finger dabei, als ob er Klavier spielte. Wenn er in der Nähe eines Möbelstückes steht, so trommelt er, leise summend, auf demselben herum; auch selbst Personen, mit denen er im Gespräch ist, berührt er, in Gedanken immer Klavier spielend, mit den Fingern. Doch wird der Darsteller des Mehlmeyer zu bedenken haben, daß er darin nicht zu weit geht und durch
Uebertreibung nicht etwa die komische Wirkung abschwächt.
MEHLMEYER sich höflich verbeugend. Ich wünsche guten Morgen, Frau Amtsrichter. Wirft die Haare zurück.
NATALIE. Guten Morgen, Herr Mehlmeyer. Sie sind ja heute früh bei Wege?
MEHLMEYER. Früh? Allerdings – ja, wenn man bedenkt, daß ich diese Nacht – Dudilie! Markiert in der Luft mit beiden Händen eine Passage.
NATALIE. Wie?
MEHLMEYER. Wir hatten gestern Abend nach dem Konzert noch eine gehörige Kneip – ein Festessen hatten wir – ja. Da haben wir fest gegessen und gesessen.
NATALIE lächelnd. Wahrscheinlich auch getrunken.
MEHLMEYER vergnügt. Richtig, getrunken und gejeu – geschehen ist nichts weiter, nein. Didideldeldum!
NATALIE. Was verschafft mir denn die Ehre Ihres frühen Besuches? Wollen Sie nicht Platz nehmen?
MEHLMEYER. Ich bin so frei. Setzt sich an den Tisch. Ah, Kuchen, Blumen –
NATALIE. Es ist heute der Geburtstag meines Mannes – Betonend. der erste Juni.
MEHLMEYER. Der Geburtstag des Herrn Amtsrichters? Ich gratuliere von Herzen.
NATALIE. Mein Mann ist am ersten Juni geboren.[10]
MEHLMEYER. Am ersten Juni – so? Ich bin am zwanzigsten Oktober geboren. Wie gesagt, ich gratuliere. Dudideldum. Führt eine Passage auf dem Tisch aus und wirft dabei eine der Blumenvasen auf die Erde.
NATALIE erschrocken. Ach!
MEHLMEYER aufstehend und die Vase wieder aufnehmend. Entschuldigen Sie, ich dachte gerade an die neue Sonate von Brahms. Ich sage Ihnen, da sind ein paar verflixte Oktavensprünge drin. Sehen Sie, ich kann doch wahrhaftig was greifen – Hält ihr seine ausgespannte rechte Hand vors Gesicht. aber –
NATALIE abwehrend. Bitte, das interessiert mich gar nicht.
MEHLMEYER. So?
NATALIE. Sie würden mich sehr verbinden, wenn Sie mich auf einen Augenblick ungestört ließen.
MEHLMEYER zurücktretend. Mit Vergnügen.
NATALIE. Ich bin eben dabei, Ihre kleine Monatsrechnung zusammenzustellen.
MEHLMEYER. Ah, sehr angenehm. Bei Seite. Das könnte mir gerade noch fehlen. Eine scheußliche Situation! Drinnen sitzt meine Wäscherin und will die Oberhemden nicht eher hergeben, als bis ich neun Mark berappt habe. Wo soll ich heute neun Mark herkriegen – nach solch' pechöser Nacht! Der Bube hat nicht ein einziges Mal eingeschlagen. Aber meine Wäsche muß ich haben – ich kann doch nicht im Nachthemd ausgehen und Stunden geben. Ob ich mich der Alten anvertraue? Die Leute scheinen ganz gut situiert zu sein. Ich möchte es versuchen. Lalalabumbum!
NATALIE welche bisher an den Fingern gerechnet und dann geschrieben hat, steht auf. So, hier ist die kleine Nota. Ich wollte sie Ihnen eigentlich mit dem Frühstück hineinschicken –
MEHLMEYER sich verbeugend, wobei ihm das Haar ins Gesicht fällt. O, Sie sind zu aufmerksam.
NATALIE. Nun können Sie sie ja gleich in Empfang nehmen. Miete, Kaffee, kleine Auslagen – zusammen sieben und dreißig Mark vierzig Pfennige.
MEHLMEYER die Rechnung einsteckend. Sehr schön, ich danke.
NATALIE betonend. Sieben und dreißig Mark vierzig Pfennige!
MEHLMEYER. Jawohl, sieben und dreißig Mark vierzig Pfennige. Noch neun Mark dazu, das wäre dann zusammen –[11]
NATALIE. Wie?
MEHLMEYER. Ach so! Tief Atem holend. Gnädige Frau – Rasch. kennen Sie die neue Sinfonie von Mahler?
NATALIE verwundert den Kopf schüttelnd. Nein.
MEHLMEYER. Nein? – schade! Aber Ihr Fräulein Tochter, Fräulein Emma – ja, die kennt sie. Wir haben sie neulich vierhändig gespielt. Dideldidum! O, Fräulein Emma ist sehr musikalisch.
NATALIE bei Seite. Wie kommt er denn auf Emma? Laut. Nun, ich denke, Sie wollten mich um etwas bitten?
MEHLMEYER. Ganz recht – ja. Wenn ich nämlich vorhin sagte: Neun Mark dazu, so meinte ich – sehen Sie, gnädige Frau, es ist scheußliches Pech, daß der Bube nicht ein einziges mal – Nein, ich wollte sagen, nur eine momentane Verlegenheit; denn am Ende – ich habe eine reiche Tante in Bremen, einen reichen Onkel in Hamburg und einen reichen Bruder auf den Südseeinseln. Wenn Einer stirbt, erbe ich was. Jawohl. Ist näher getreten und berührt unwillkürlich mit den Fingern Natalien's Schulter. Diese sieht ihn erstaunt an, und er weicht zurück. Entschuldigen Sie.
NATALIE bei Seite. Der Mensch kommt mir heute ganz sonderbar vor. Sollte die Emma vielleicht doch Recht haben?
MEHLMEYER bei Seite. Ich verheddere mich immer mehr und komme nicht zum Ziel. Laut. Gerade heraus, Frau Amtsrichter –
NATALIE. Nun?
MEHLMEYER Mut fassend, indem er nach links zeigt. Meine Wäscherin ist drinnen.
NATALIE. Ach so! lassen Sie sich gar nicht stören. Wir können unser kleines Geldgeschäft auch später abmachen. Guten Morgen, Herr Mehlmeyer. Ab nach rechts.
MEHLMEYER sich verbeugend. Es war mir sehr angenehm.
Buchempfehlung
Als E.T.A. Hoffmann 1813 in Bamberg Arbeiten des französischen Kupferstechers Jacques Callot sieht, fühlt er sich unmittelbar hingezogen zu diesen »sonderbaren, fantastischen Blättern« und widmet ihrem Schöpfer die einleitende Hommage seiner ersten Buchveröffentlichung, mit der ihm 1814 der Durchbruch als Dichter gelingt. Enthalten sind u.a. diese Erzählungen: Ritter Gluck, Don Juan, Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza, Der Magnetiseur, Der goldne Topf, Die Abenteuer der Silvester-Nacht
282 Seiten, 13.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro