Erster Brief

Lassen Sie mich, meine geliebte, so lang gewünschte Freundin, einige Thränen über mein Schicksal weinen, das mich von Ihnen entfernt, und alle die süsse Freuden zerstört, die mir ihre Güte und Ihr Geist wechselsweise schenkten. Was ist Leben, Glück und Wissen, wenn sie nicht von antheilnehmender Liebe und Freundschaft mit genossen werden! – Wie lange wartete mein Herz auf diese irrdische Seligkeit! – Ihr feiner aufgeklärter Geist, Ihre edle, liebreiche Seele, haben mir solche in vollem Maaß gegeben. –[1] Sie erforschten mich, und da sie sahen, daß mein Herz gut ist, und mein Kopf denken und fassen kann, so waren Sie zufrieden, ohne zu fodern und zu hoffen, daß ich fehlerlos seyn sollte. – Ihre Gesinnungen waren zärtlich, Ihre Hochachtung aufrichtig, ohne den hohen Grad Schwärmerey, aus welchem die Unverträglichkeit entspringt. Sie sind das zweyte wahre Geschenk des Himmels, das mir zu Theil wurde; denn nachdem ich ein Herz voll Gefühl des Edlen und Guten erhalten hatte, so fehlte mir noch ein anderes, auch dessen Zeugniß ich mich stützen konnte. Ihre moralische Seele war mein zweites Gewissen, Ihr geübter Geist die Bewährung des meinigen. Ihnen ist weder die Lebhaftigkeit meines Kopfs, noch die überfliessende Empfindsamkeit meines Herzens jemals anstößig gewesen. –

Bey Ihnen, meine Mariane, kann ich mich der süssen Empfindung, jemand imhöchsten Grad hochzuachten, ohne Sorge überlassen; die Eigenschaften Ihres Geistes und Herzens versichern mich daß ich durch Sie den Schmerzen niemals fühlen werde, diese Gesinnungen[2] zurück zu nehmen. Ihre Bekanntschaft, Ihr Umgang war für meine Seele das; was ein heiterer Himmel, reine Luft und freye Aussicht in eine fruchtbare Gegend, einem Menschen ist, der lange verbannt war, eine niedrige Hütte, in einem sumpfigen mit unangebauten Bergen umgebenen Thale, zu bewohnen. Manchmal sah er einzelne schöne Büsche auf einer Ecke des Gebürgs. Mit Begierde und Freude stieg er dazu, an dem Geruch ihrer Blumen und ihrer schönen Gestalt sich zu ergötzen; aber häufige versteckte Dornen verletzten ihn; der lockere, wenige Sand, in dem der Busch stund, wich unter seinen Füssen; er wankte und beschädigte sich noch an umliegenden Felsstücken. Traurig kam er in seine Hütte zurück, und versuchte dann wieder einmal in trockenen Tagen, ein nah' an dem Felsen liegendes Stück grünen Rasen zu betreten. Der Gedanke, der so wohlthätigen Graspflanze gab ihm Zuversicht. Aber es deckte einen trügerischen Haufen von Schlamm, und er hatte Mühe, sich vor dem Sinken zu retten. Niedergeschlagen über die vergeblichen Versuche, blieb er in dem Kämmerchen seiner Hütte, und überdachte das[3] Glück derer, die auf einer schönen Anhöhe, mit Weingärten, Wiesen und Feldern umgeben, wohnen, und mit jedem Blick Freude fühlen. Nachdem aber ein Geschick ihn auch dahin rufte, ist gewiß jeder Athemzug Dank zu der gütigen Vorsicht. – Wie oft zog mich bey meinen ehmaligen Bekannten der schöne Schein von Sanftmuth und Güte! – wie sehr trogen und verwundeten sie mich! – Wie grundlos fand ich ein andermal die schönsten Anzeigen von Stärke und Edelmüthigkeit der Seele! – Nun reise ich mit meinem Oheim. Die Pflichten, welche ihm aufgegeben sind, und die Absichten seines Herumwanderns, führen ihn in verschiedene Gegenden. In einigen werden wir uns lange aufhalten; da will ich, während mein Oheim politische Beobachtungen sammlet, auf meiner Seite suchen jede thätige Tugend zu bemerken, welche ich in dem Laufe meiner Reise ansichtig werden kann. Darüber will ich Ihnen schreiben, und Sie können, nach Ihrer Lieblingsgewohnheit, und des Herrn Hume Anweisung zufolge, das Maaß meiner moralischen Kräfte nach dem Grade sympathetischer Bewegung berechnen, welche die Betrachtung übender Tugend in[4] mir hervorbringen wird; denn Sie pflegten so gern den Umfang eines öden oder angebauten Kopfs zu bestimmen, je nachdem Sie sein Vergnügen und Aufmerksamkeit bey den Unterredungen der Vernunft und Wissenschaften stark oder schwach sahen. In diesem Felde hoffe ich Nutzen für meinen Geist zu sammlen. Sie werden alles, auch den leisesten Gedanken, zu lesen bekommen, und mich also auf allen Seiten kennen lernen. – Denn, meins Mariane, meine Seele ist bey Ihnen, mit Ihnen allein redet sie durch mein Vertrauen, und in meinen Briefen mit andern redet meine Achtung, meine Höflichkeit, welches Abgaben und Anforderungen sind, die ich niemand versagen werde. – Aber Sie, meine Freundinn, Sie allein haben die besten Gesinnungen des Herzens

Ihrer

Rosalia.[5]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 1-6.
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