Dritter Brief

[10] Ich schreibe Ihnen, meine Mariane, von einem schönen Dorfe, das auf einer kleinen Anhöhe liegt, die mir das Glück schaft, aus dem Fenster, wo ich sitze, eine Reihe der majestätischen Schweitzergebürge zu sehen. Die untergehende Sonne färbt sie Blau und Rosenroth, mit grossen Stücken Glanzsilber dazwischen. Meine Seele fühlt mit innigem Vergnügen die Grösse der Allmacht meines Schöpfers. Es freut mich, mein Daseyn aus der nehmlichen Hand erhalten zu haben! und es ist Ueberzeugung in mir, daß auch ich die Fähigkeit zu großen und edlen Handlungen in mir habe. – Ach, warum sind Sie nicht in diesem Augenblicke bey mir! Warum sieht das geistreiche Auge meiner Mariane diese schöne Gegenstände nicht mit mir! – Ihre Gegenwart würde meine Freude erhöhen; meine Blicke begegneten den Ihren; Sie kennten den Werth der Thräne, die in meinem zum Himmel erhabenen Auge schwimmt! – Meine, mit Bewunderung des Schöpfers gefalteten[10] Hände, die ich einsam an meine Brust drücke, würden Sie, beste Freundinn, und mit Ihnen Ihre tugendvolle Seele umarmen. Sie theilten das selige Gefühl des Lebens und der Anbetung unsers Schöpfers mit mir, und, auf Ihre Brust gelehnt, dankte ich ihm für Sie, für jede Tugend Ihres Herzens, und für die Schönheit Ihres Geistes! Denn, meine Mariane, ich könnte, ich bekenne es, ich könnte Sie nicht lieben, wie ich Sie liebe, wenn Sie nicht so viel Geist und Kenntnisse hätten, als Sie haben. – Aber, meine Freundinn, wenn die Stärke meiner Empfindungen bey dem nähern Anblick dieser Berge zunimmt: so bin ich begierig, wie ich sie ausdrücken werde! – Bald, meine Mariane, bald kann ich dieses wissen; denn wir gehen diese Stunde noch weiter, und mein Oheim sagte mir, da ich die Angst vor dem Nachtreisen verrieth, daß ich ohne Kummer seyn könne, weil während der Erndtezeit das Feld voller Bauersleute wäre, die wegen der Tageshitze des Nachts durch das Korn schnitten, und man also ganz sicher seyn könne. –


Aus dem schönen St**. Dorfe W**.

[11] Wie angenehm, meine Mariane, wie sehr angenehm war mir der Schutz meines Lebens aus der redlichen Hand der Arbeitsamkeit! Ruhig, unbesorgt, setzten wir unsern Weg fort, weil wir unter der Obhut der Tugend und des Fleisses waren. Mit dankbarer Liebe und mit Segen sah' ich die Schnitter an, und dachte: so schaffen übende Tugenden die Menschen wechselsweise zu Schutzgeistern des Glücks und der Freude ihres Nächsten; so, wie man vom Laster sagen kann, daß es seine Untergebene durch Verführen und Quälen der Guten zu Satans macht. –

Wir kamen den andern Tag sehr frühzeitig hieher, wo mein Oheim mit dem Oberbeamten des Grafen von St**. etwas zu bereden hatte. Wir wurden zur Tafel geladen, und erhielten die schmeichelhaftesten Höflichkeitsbezeugungen. Es war mir lieb, daß Nachmittags der Graf mit so vieler Aufmerksamkeit den ernsthaften Geschäftshandlungen beywohnte, weil ich dadurch das Glück hatte, um[12] seine Gemahlinn zu seyn, die eine liebenswürdige und verdienstvolle Dame ist, von deren angebauten Geist, Gottesfurcht, angenehmen Umgang und jeder Geschicklichkeit, die eine Frauenzimmerhand beseelen kann, ich schon lange hatte reden hören. Ich fand sie edel, natürlich, ohne das geringste Gepränge, weder auf ihren Stand noch ihre Talents. Die ungemein schöne Ordnung des Hauses zeugt von ihrer Einsicht in Wirthschaftssachen, und ihre zwey ganz vortreflich erzogene Söhne beweisen die feine Wahl, die man in den Fähigkeiten ihrer Lehrmeister gemacht hatte. Es freute mich, diese würdige Frau als eine so glückliche Mutter zu sehn, indem sie Geist, Talente und Character in ihren Kindern blühen sieht. Gerne hätte ich ihr meine besondere Verehrung und Liebe bewiesen, aber die Umstände hinderten mich, sie auszudrücken, und gewiß hätten sie auch ihre Empfindungen zurück gehalten. Ich wünschte ihr im Grunde meiner Seele jede Glückseligkeit ihres Ranges und fühle Zufriedenheit, diese meine wahre Gesinnungen bey Ihnen, meine Mariane, die mich kennt, so ganz ungekünstelt auszudrücken. Bey Ihnen haben weder Umstände[13] noch Personen die Gewalt, einen Nebel oder Rauch um mich zu ziehen, die meine wahre Gestalt undenklich machen würden! – Das Schloß W**. liegt auf einem Halbberg, möchte ich sagen, und gewiß, nach der Einrichtung der Zimmer, Eintheilung des Gartens und der Felder umher, kann man sagen, daß es einer der schönsten Edelmannssitze in ganz Deutschland sey. Uebermorgen Abend hoffe ich in einer Schweißerischen Gränzstadt zu schlafen. Da werde ich Freyheit und Vaterlandsliebe träumen.

Rosalia.[14]

Quelle:
Sophie von La Roche: Rosaliens Briefe an ihre Freundin Mariane von St**. Theil 1–3, Teil 1, Altenburg 1797, S. 10-15.
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