36. William an Valerius.

[168] Ich baue auf Deine Redlichkeit und vertraue mich Dir an. Die Verfolgung ist mir auf der Ferse, ich habe große[168] Not, ihr zu entrinnen, tu alles Mögliche, sie auf falsche Spur zu leiten, verbreite, ich sei nach Österreich geflohen. In diesem Augenblicke darf ich mich nicht weiter wagen, sondern muß mich verborgen halten. Erst wenn die falschen Nachrichten zu wirken anfangen, hoffe ich über die belgische Grenze zu entkommen. Mein ganzes Innere ist aufgelöst, ich frage mich nach keiner Rechenschaft, denn ich kann mir keine geben. Mein Gewissen ist verloren, keine Autorität vermag mich freizusprechen; nun so rolle denn das Rad dem Abgrunde zu. Daß ich die Fürstin mit glühendem Verlangen liebte, wird Dir wohl schon klar geworden sein. Lange kämpften meine Grundsätze hartnäckig gegen mein Fleisch. Ich hätte gesiegt, wäre ich nicht durch die freundlichen Worte und Blicke des schönen Weibes verführt worden. Ich stand auf dem Punkte abzureisen und empfahl mich ihr; sie reichte mir die weiche Hand zum Kusse, strich mir das Haar von der Stirn und fragte, was mich drängte. Ich konnte nicht fort, die Sünde war ausgebildet in meinem Herzen, ich vermochte es nicht mehr, mich vor meinem Gewissen zu rechtfertigen. Ich schlug mein Gewissen tot und wollte genießen. Jener unheimliche Schwager stellte sich mir entgegen; er fiel als erstes Opfer eines Menschen, der die Bande der Ordnung in sich zerrissen hat. Schweig, schweig, ich erkenne es an, daß Du mir gegenüber jetzt im Rechte bist. Es ist Ordnung in Dir, wenn auch eine Ordnung, die ich verabscheue. Ich selbst geh' zugrunde, aber mein System bleibt unerschüttert; ich bin außer ihm. Alle jene Begierden, welche die Gesetze meiner Religion in starren Banden hielten, sind rasselnd aufgesprungen, haben sich meiner bemächtigt, seit ich jenen Fehltritt begangen. Ein Stein ist herausgerissen, es stürzt das ganze Gebäude über mir zusammen; ich muß rennen und rennen, um diesem Geschick zu entgehen. Die Hölle hohnlacht, aber sie soll wenigstens einen glänzenden Fang gemacht haben; ich habe mich verloren, aber die Lust will ich gewinnen.[169] Zurück führt kein Weg, der Himmel geht am Abgrunde hin, ein falscher Tritt ist hinreichend. Ich bin gefallen und will mich der neuen Gesellschaft würdig machen. Früher lohnte meine Tugend die äußersten Entbehrungen, Entbehrungen ohne diesen Gegendruck sind kindische Schwäche – die Tugend ist verloren, nun denn, so jag' ich nach dem Genuß. Ihr habt viel Schuld an meinem Unglück; wer die Verleugnung der Religion stets neben sich sieht, wird matt in seinen Dogmen. Ihr unseligen Volksverführer habt meinen besten Teil auf Eurem Gewissen.

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 1, Leipzig 1908, S. 168-170.
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