28.

[211] Valerius lag in Warschau in seiner Wohnung danieder. In den letzten Stadien der Schlacht hatte ihm eine Kugel den Arm zerschmettert; Stanislaus' Sorgfalt hatte so viel bewirkt, daß er nicht in ein Hospital gebracht, sondern in seiner alten Wohnung aufgenommen wurde.

Es waren Wochen vergangen, die Wunde heilte langsam und schmerzhaft. Von Stanislaus hatte er erfahren, daß Konstantie auf des Onkels Landgut wohne, zwei Meilen von der Stadt; sie befinde sich sehr wohl. Das Landgut sei belebt durch zahlreiche Besuche; manche sollten der schönen Witwe auf das dringendste den Hof machen.[211]

Valerius bat seinen Freund, Konstantien zu grüßen. – »Ich werde es schwerlich ausrichten können, Wertester,« erwiderte Stanislaus, »in einer Viertelstunde muß ich Warschau verlassen in Dienstgeschäften; eh' ich wiederkehre, denk' ich, sind Sie gesund.«

Schreiben konnt' er nicht, dazu fehlte der Arm, fremde Leute gewährten ihm die nötigen Handreichungen, er wußte kein Mittel, Konstantien Nachricht zu geben, da der direkte Weg eines plumpen Boten durch die Form versperrt war. Der alte Graf schickte ihm Bücher, seine Krankenspeisen und dergleichen – aber er glaubte, versichert sein zu können, daß dieser alte Fuchs seiner Nichte kein Wort erzähle, das den jungen Deutschen beträfe.

So mußte er in der Einsamkeit harren und das Schicksal seinen Gang gehen lassen. Wir mögen noch soviel über die Worte Schicksal, Fügung, Zufall reden, immer sind wir innerlichst der Meinung, daß sie durch unser Zutun, wenn nicht geändert, so doch gelenkt werden, und unser Mißbehagen erreicht den höchsten Grad, wenn wir uns von aller Tätigkeit und Einwirkung ausgeschlossen sehen. Dann glauben wir uns dem Ärgsten preisgegeben.

So Valerius. Alles schwarzen Gedanken seiner letzten Entwicklungsjahre sammelten sich um sein Krankenlager, und als er zum ersten Male wieder ausgehen konnte, brachte er eine ganze Welt von quälenden Gedanken mit sich an die warme Sommerluft. Und die Gedanken flogen nicht mehr in Gestalt von Zweifeln um seine Seele, es waren feste, unumstößliche Vorstellungen. »Du bist eins der unglücklichsten Wesen auf der Welt,« sagte er sich, »in die Reform des Menschengeschlechts hast du dich hineingestürzt mit einem Herzen, das jeden Augenblick selbst des Trostes, der Unterstützung bedarf, das an Liebhabereien, Gewohnheiten hängt, wie das Kind an der Amme, das bei jedem neuen Schritte tausend Fragen der Rücksicht und Bedenklichkeiten aufwirft.[212] Unglücklicher Tor, wozu taugst du auf dieser Welt? Im beschränkten hergebrachten Kreise fortzuleben genügt dir nicht, um das Kleine, Unscheinbare kennen zu lernen, und dich am Ende daran zu erfreuen, fehlt es dir an Geduld und Ausdauer, und für das Große an Mut und Kraft. Deine Hoffnungen gingen zugrunde, da du dieses Volk anders fandest, als du daheim hinter dem Ofen geträumt, mit einem einseitigen Maßstabe der Bildung kamst du her, und entsetztest dich, als er nicht paßte für neue Verhältnisse. Sie haben recht, die Verfolger dieser neuerungslustigen Jugend, wenn sie uns Oberflächlichkeit vorwerfen, wenn sie sagen: Es sind junge, unreife Leute, voll Drang nach neuen Dingen, weil sie zu ungeschickt, zu träg, zu stolz sind, sich mit allen Kräften der alten zu bemeistern. Es ist ihnen zu langweilig, die bisherigen Zustände bis in ihr tiefes historisches Leben zu ergründen; die beliebten historischen Rezits, einige blendende wissenschaftliche Redensarten, die sie sich angeeignet, geben ihnen die Überzeugung tiefer geschichtlicher Einsicht. Die eigene innere Unlust, Dinge gründlich erschöpfend zu studieren, stachelt sie, alles, was da ist, abgelebt, veraltet, unvollkommen zu nennen. Einige Unvollkommenheiten, Vernachlässigungen, Mängel, die bei keinem irdischen Institute ausbleiben, dienen ihnen als Vorwand, alles für schlecht, jede Veränderung für notwendig zu erklären. In dem hohlen Revolutionslärm übertäuben sie das eigene Gewissen, das ihnen zuflüstert, wie sie die Zukunft im Grunde dem Zufall überlieferten, die Zivilisation auf eine unsichere Karte setzten, wie sie nicht die Fähigkeit besäßen, eine neue Gesellschaft zu erfinden, eine Gesellschaft mit den tausend kleinen Rädern und Walzen, deren Kenntnis das erschöpfendste, gründlichste, sorgfältigste Studium nötig macht. Solche Leute, trösten sie sich, werden sich finden, das gehört für die Maschinenmenschen, wir erfinden, wir ändern im großen, das Genie kümmert sich nicht um Hilfswissenschaften. Und diese Klasse der Revolutionärs[213] ist noch die beste, sie sucht nur dem eigenen Geständnisse der Unzulänglichkeit zu entfliehen, sie will sich selbst darüber täuschen, daß sie den schwierigen, mühseligen Weg der Kultur überspringt, sie hat noch Stunden des Zweifels, der Unsicherheit, und sie wird noch von der anderen, schlimmeren Hälfte vorgeschoben, die nichts will als rauben und stehlen im großen und kleinen. Diese letztere lebt in unbehaglichen Zuständen, sie ist zu träge oder zu ungeschickt, sie in bessere umzugestalten – jede allgemeine Änderung ist ihr willkommen. Je gewaltsamer, je größer, desto besser. Da öffnen sich Chancen, die außer dem Laufe des Herkömmlichen liegen, da gibt es allerlei Beute, die nicht mühsam lange vorbereitet zu werden braucht. Diese Stegreifritter des Wissens, des Herzens und schneller Hände, diese bilden die sogenannte revolutionäre Jugend.«

Wenn die Leute dennoch recht hätten! Er stand an einer Straßenecke still. »Es ist freilich ein Räsonnement des Theaters,« sprach er weiter, »ebenso oberflächlich, wie das, was sie oberflächlich nennen, ebenso einseitig, eine schnelle Antwort für den schnellen Frager, der die Bühne verlassen muß, weil man zur Verwandlung geklingelt hat. Aber wie sieht es aus in mir? Muß nicht ein jedes Individuum seine ganze Partei vertreten, muß es nicht all seine Verhältnisse, Stimmungen und Wünsche fortwährend den Forderungen der Welt, der Bildung gegenüberstellen, um zu prüfen, ob die neue Generation auf richtigem Wege sei? Ist es bloß persönliches Ungeschick, daß nichts in mir und um mich passen will, bin ich ein falscher Ausdruck unserer Jugend? Gehetzt lauf' ich durch die Tage hin, alles entwickelt sich mir zu langsam, überall finde ich Hindernisse, nur der Rausch, wie meine Liebe für Konstantien zu sein scheint, hält mich eine Zeitlang aufrecht, einsames Krankenlager wirft mich wieder in das Chaos zurück – kann das der rechte Weg sein?«

»Vorgesehen!« riefen plötzlich zwei Stimmen neben ihm.[214] Eine Tragbahre streifte an dem Träumer hin; sein Auge fiel auf einen Kranken, der ausgestreckt auf derselben lag. Entsetzt wendete er den Blick hinweg. Es war ein aufgeschwollenes, todblasses Frauengesicht, dessen vortretende Augen ihn mit einem gespenstischen Todesblicke anstarrten.

Jetzt fiel ihm ein, daß seine Krankenpfleger erzählt hatten, seit der Schlacht bei Iganie sei die Cholera unter den Polen zum Vorschein gekommen, das Pahlensche Korps habe sie aus Beßarabien mitgebracht, und jetzt wüte sie in Warschau. Die Träger hatten jenes kranke Weib niedergesetzt und reichten einander die Schnapsflasche, um sich für den weiteren Weg zu stärken. Dabei lachten sie, und auf die Kranke deutend, meinte der eine: »Sie geht aufs letzte Stadium los, wie der Doktor zu sagen pflegt, frisch Kamerad, daß wir sie noch lebendig ins Hospital bringen.«

Valerius schauderte, aber er konnte sich nicht enthalten, noch einen Blick auf das Weib zu werfen. Mit Entsetzen glaubte er zu bemerken, wie sich die schwarzen Todesschatten der Pest immer dichter um Augen und Schläfe legten, mit Entsetzen erkannte er in den verzerrten Zügen das Antlitz Ludmillas.

Auch sie schien sich eines Bekannten in ihm zu erinnern – bekanntlich bleiben die von dieser Pest Befallenen ihrer vollen Verstandeskräfte mächtig. Vielleicht wußte sie auch weiter nichts, als daß sie das Gesicht des jungen Mannes schon einmal gesehen hatte, und in dieser Todesverlassenheit, in den Händen stockfremder, roher Gesellen mochte ihr das schon Aufmunterung sein, irgend eine Hilfe anzusprechen. Kurz, sie arbeitete sichtbar mit den Händen unter der wollenen Decke und streckte endlich einen kreideweißen Arm heraus nach Valerius hin. Der hintere Träger, welcher mit seinem Gefährten eben die Last wieder aufheben wollte, sprang fluchend herbei und drückte den Arm wieder zurück. Valerius aber, vom krampfhaften Mitleide durchdrungen,[215] versprach den stier auf ihn blickenden Augen, er werde mitgehen.

Je näher sie dem Hospital kamen, um so größer wurde die Anzahl der Tragbahren, welche herbeigeschafft wurden. Aus allen Gäßchen kamen welche, und im Hofe des Krankenhauses stockte der Zug, weil die Vorderen nicht so schnell ihrer Last entledigt werden konnten, als die Hinteren nachdrängten. Da stand denn der ohnedies schon geistes- und körperkranke Deutsche, entsetzt von dem schrecklichen Anblicke der Verpesteten, welche sich zum Teil in der Todesangst aus den Bahren herauszuarbeiten trachteten, betäubt von dem wüsten Lärm der Träger, die sich schreiend zutranken, rohe Scherze zuriefen, ihre unruhigen Schützlinge unter die Decken drückten und das Ganze mit nicht mehr und nicht weniger Teilnahme behandelten, als trügen sie Kulissen und Garderobe für ein Schauspiel zusammen. Zu einer Seitentür des Gebäudes sah er einen Leichnam nach dem andern heraustragen und kopfüber in eine ungeheure Grube stürzen – wenn ein unglücklicher Kranker sich einen Augenblick aufrichten konnte, so sah er, was seiner wahrscheinlich in wenig Stunden harrte. Man machte für ihn Platz, und bald gab er denen Raum, die nach ihm kamen. Der Anblick eines Schlachtfeldes dünkte Valerius Erholung neben dieser Szene. Man könnte sagen, dort sieht der Tod und das Leiden gesund aus, und in dem Schmerzensgeschrei der Verwundeten bekundet sich noch eine Lebenskraft. Hier sah man nichts als faulen Tod, die betroffenen Opfer schwiegen größtenteils, nur aus den verzerrten, zu Schmerz versteinerten Gesichtern sprach die unendliche Qual. Und wenn man ein Wimmern hörte, so klang es so übermenschlich schmerzhaft, so unnatürlich jammervoll, als käme es aus einer fremden, in lauter Elend wogenden Welt, aus einer qualvollen Hölle.

Valerius schauderte im Innersten. So entsetzlich war ihm das Menschenleben noch nie erschienen, und gefoltert von[216] den Fragen der Gesellschaft, umgeben von dem Elende des Körpers, war er wohl zu entschuldigen, wenn er einen Augenblick dem Gedanken Raum gab: wozu das ganze Dasein dieser Art? So sehr ihm sonst die Verzweiflungshelden zuwider waren, die überall Zorn und Klagen gegen die Weltordnung ausstoßen, in diesen Augenblicken wußte er keinen Tadel gegen sie.

Beim Drängen am Eingange wurde eine Bahre umgestürzt; der Kranke fiel auf das Pflaster mit dem Gesicht nach unten. Ohne nachzusehen, was ihm begegnet sein könne, warfen ihn die Träger wieder auf sein Lager, und fort ging es, die Treppe hinauf. Der Begriff eines Menschen hört in solchen Zeiten auf, es gibt nur Gegenstände, deren man sich so schnell und so gut entledigt, als es eben gehen will.

Er kam endlich mit seiner armen Leidenden in den großen Saal des Krankenhauses. Es war kein Platz, und er mußte sich durch Geld die Aufmerksamkeit und Teilnahme eines Wärters erkaufen, um Ludmillen unterzubringen.

»Ich glaube, der Alte wird fertig sein,« sagte dieser murmelnd vor sich hin, und schritt nach einem Winkel des weiten Gemachs. Valerius sah, wie er einen greisen Kopf in die Höhe richtete, die verworrenen grauen Haare hingen struppig bis über die weit offenen, gläsern herausstarrenden Augen. Das magere, knochige Gesicht war mit einer bräunlichen, grauenhaften Pestfarbe überzogen, der Schaum lag in einzelnen Tropfen auf den zusammengekniffenen, blauschwarzen Lippen.

»Ja,« sagte der Wärter, indem er sein Ohr einen Augenblick an die Nase des entstellten Kopfes geneigt hatte, »der ist reif. – Heda, ihr faulen Schlingel, ihr werdet die Pest nicht versaufen mit eurem Branntwein; gebt einmal die Flasche her, na, der alte Krukowiecki und die Cholera sollen leben, macht hier Platz mit dem Alten, 's hat ihn lang genug gewürgt, andere ehrliche Leute wollen auch dran, sputet euch, bis ihr 'nunter kommt, ist er kalt.«[217]

Diese Anrede galt ein Paar rotbackigen Burschen, welche das Geschäft der Totengräber versahen. Sie warfen den Alten auf ein paar zusammengenagelte Bretter und traten die letzte Reise mit ihm an. Ludmilla kam an seine Stelle. Ängstlich blickte Valerius über den weiten Saal, sein Auge suchte einen Arzt. Bett an Bett stand auf beiden Seiten, hier und da hob sich ein dem Tode verfallener Schmerzenskopf. –

»Ich will Ihnen den kleinen deutschen Doktor bringen,« sagte der Wärter, »der versteht's am besten; wenigstens dauert's immer nicht lange: entweder 's hilft so, oder 's hilft so, aber wirken tut's immer. Man weiß doch immer bald, wie man dran ist – da kommt er just den Gang herauf, sehen Sie nur wie er hopst, munter ist er immer, als wenn er 'n Franzose wäre.«

Valerius eilte ihm entgegen. Zu seinem größten Erstaunen erkannte er Leopold. Dieser umarmte ihn stürmisch und hatte so viel tausend Fragen, und war so heiter und glücklich, als wenn er seinen alten Freund auf einem Balle wiedergefunden hätte. Soviel man sehen konnte, ganz der alte Leopold, wie er auf Grünschloß gewesen war.

Sein ernsterer Landsmann führte ihn aber ohne Verweilen an Ludmillens Lager und sprach: »Hilf, wenn du kannst.«

Leopold griff nach dem Pulse und entblößte dabei wieder den Arm der Kranken. – »Schöne Formen, schöne Formen!« sagte er lächelnd zu Valerius. Die Kranke richtete die starren Augen auf den Arzt, als er die Hand auf ihre heiße, trockene Stirn legte; man glaubte, Schwerter darin zu sehen, die um das Leben fechten wollten. – »Hilfe!« dies einzige, erste Wort rang sich von den blassen Lippen.

Valerius fühlte sich aufs schmerzlichste gepeinigt.

Der junge Arzt öffnete der Leidenden eine Ader und wendete alle die unsicheren Mittel an, welche damals gegen[218] diese unergründete Pest gebräuchlich waren. Dabei verfuhr er mit so großer Zuversicht und Sicherheit, das gespannte, krampfhafte Wesen der Krankheit schien wirklich in etwas nachzulassen, so daß Valerius einige Beruhigung schöpfte. Er fragte Ludmillen, ob er noch irgend etwas für sie tun könne, ob er Kasimir suchen solle – sie schüttelte heftig den Kopf und machte eine sanfte Bewegung mit der Hand, als wolle sie ihn nicht länger zurückhalten. Er versprach, mit dem Arzte bald wiederzukommen, und verließ am Arme Leopolds den Saal. Nachdem er ihm über seine bisherigen Schicksale, den verwundeten Arm und die schöne Kranke den nötigen Aufschluß gegeben hatte, überschüttete ihn dieser mit Erzählung der eigenen Schicksale. Denn nur die Neugier war einen Augenblick größer gewesen als seine Geschwätzigkeit. Valerius unterbrach ihn jedoch noch einmal mit der dringenden und ernsten Frage, ob er sich auf die gegen Ludmillens Krankheit getroffenen Maßregeln verlassen könne, ob Leopold sichere Einsicht in diese Krankheitsverhältnisse besitze, ob man nicht vielleicht noch einen älteren Arzt zu Rate ziehen möchte? Aber der Kleine unterbrach ihn lächelnd. Es war noch jenes alte artige Gelächter, worin so viel Kindlichkeit, gutmütiges Wesen und Bonhomie lag, daß es niemand übelnehmen konnte.

»Du bist noch derselbe gewissenhafte Kauz,« sprach er unter diesem Lachen, »der die Medizin in Ordnung und Notwendigkeit eingesperrt wissen will wie die Logik. Die Welt mag ein Exempel sein, aber wir haben keinen Rechnenknecht dazu und können's nicht lösen, drum ist es wohl besser, sie für eine große Poesie zu halten, deren Prinzipien uns unbekannt sind, und die wir ohne Prüfung genießen sollen, so gut wir eben können. Sieh, das ist am Ende in wenig Worten die Ausbeute meines Lebens, seit ich dich nicht gesehen habe. Oder richtiger: ich bilde mir's diesen Augenblick ein, solch eine Ausbeute gewonnen zu haben, denn ich muß[219] dir ehrlich gestehen, ich hab' eigentlich nichts gelernt in der sogenannten Lebensphilosophie, was man so lernen nennt. Das heißt, ich bin noch immer zu keinen Prinzipien gekommen, und als ich neulich William begegnete, da sagte er nach der ersten Viertelstunde, ich wäre noch immer der alte Taugenichts, der zwecklos und somit tugendlos in die Welt hineinlebte. Gott weiß, ob er recht hat, aber ich kann nicht anders, wenn ich nicht alle Freude aufgeben soll, und das wäre am Ende doch auch sündlich, da die ganze Welt voll Freude ist, und es sie mißbrauchen hieße, wollte man ihre Hauptsache von der Hand weisen. Du bist immer gut gegen mich gewesen, du wirst mich deshalb nicht so hart angehen, und deinen Belehrungen will ich immer Folge leisten, o, ich freue mich über alles, dich alten, lieben Valerius wiedergefunden zu haben; es war mir oft ängstlich, so ohne meinen guten Schulmeister leben zu müssen. Du weißt zwar, daß ich leicht und bequem mit den Menschen verkehre, daß ich mir alle Tage einen guten Freund erwerben kann, aber es ist doch keiner wie du, nein, wirklich, wenn du auch lachst, keiner wie du. Dein Ernst ist sanft, und wenn du lachst, dann weiß ich gewiß, es ist alles in Ordnung, und ich darf tüchtig mitlachen, ich fühle mich so sicher in deiner Nähe! Und wenn die Leute sagen, ich sei leichtsinnig, du aber weißt, was ich treibe, und nicht eben darüber schiltst, dann kümmert mich das Gerede der Leute nicht. Nun höre, was ich getrieben habe. Aber laß uns hier bei Lessel eintreten, du mußt etwas genießen, damit dir der Choleraschreck nicht schadet – ja, apropos, ich bin davon abgekommen, dir von der Cholera und unserer Heilung derselben zu sprechen. Du weißt, ich bin in allen Dingen für die Poesie dieser Dinge, und weniger für ihre strenge, ausgerechnete Wissenschaft. Du glaubst nicht, wieviel bloße Poesie in unserer Heilkunst steckt. Darum lieb' ich sie. Wie jeder Mensch seine individuelle Dichtung in sich trägt, so jeder Arzt seine eigene Medizin. Der menschliche[220] Leib ist uns der Kosmos, das verkleinerte All, ihm gelten unsere Sonette und Kanzonen: das sind die künstlichen aus Tausenderlei zusammengesetzten Rezepte, in welchen unsere Gelehrsamkeit brilliert; die vielfältigen, meist unschuldigen Stoffe paralysieren sich gegenseitig, das Resultat des Sonettenrezepts ist bloß unser Ruhm. Ihm gelten ferner unsere Epen und Romane; sie sind das Fundament des ärztlichen Lebens, sie bringen die stehende Beschäftigung, das stehende Einkommen: das sind die sogenannten großen und langen Kuren. Die Krankheit nämlich ist unser Dichtungsmotiv, das bilden wir aus nach allen Seiten, wir betrachten, wir dehnen es rechts, wir dehnen es links, und je mehr Jahre darüber hingehen, desto reifer wird das Kunstprodukt – ein schlechter Arzt, der nicht einige Scottsche Romane unter seinen Kuren aufzuweisen hat. Er bereitet sich den Roman in der Vorrede aus unscheinbaren Materialien, das heißt: er begegnet dem Patienten in spe auf einem Spaziergange und unterhält sich mit ihm über Krankheitsmöglichkeiten, später beruht seine Kunst darin, die Parteien des Stoffs in feindliche Berührung miteinander zu bringen, das gibt die Spannung, und nun kommen die epischen Rezepte. Epische Rezepte stammen gewöhnlich aus den Kolonien, aus den Äquatorgegenden, wo die Sonne brünstig auf der Erde ruht und die fabelhaften Gewächse gedeihen, die den besten nordischen Magen in zehn Minuten außer Vernunft setzen können. Zwei, drei solche Rezepte, in denen etwa der spanische Pfeffer die Rolle der pikanten Figur des Romans spielt, zwei, drei solche Rezepte, Freundchen, bringen den Roman auf die Höhe des Interesses. Nun ist die Gefahr da. Held, Verwandte, Freunde, Zuschauer sind jetzt hinlänglich beschäftigt, nun läßt der Arzt dem Stoffe seinen Lauf, er ist bereits unentbehrlich geworden, wie der Romanschreiber in der Mitte des zweiten Teils, es kommen einige Ausfüllrezepte, sanft lyrische Akkorde, welche den allzu schnellen, wilden Verlauf ein wenig mäßigen,[221] und man nähert sich langsam dem Schlusse. Hier kommt es nun wie beim Romantiker darauf an, ob sich die zu Anfang und bei der Hauptschürzung gebrauchten Stoffe und Motive nicht gegeneinandergestellt haben, ob eine Versöhnung möglich ist. In diesem Falle schließt das Ganze mit gelinden Stärkungen, kleinen nützlichen Sprüchen, die man in der Ästhetik Gnomen nennt, und die sich am Ende in medizinische Diätsregeln auflösen. Der Kranke geht zum ersten Male wieder aus, wenn er auch etwas bleich ist und den Stock braucht. Hierbei öffnet man nur noch die Perspektive, der Roman ist zu Ende, und die Mitspieler rufen wie in den alten Komödien des Plautus und Terenz: Plaudite omnes, das heißt: Bezahlt und preist den Arzt, den Künstler aufs beste. Sind jene Stoffe und Motive aber unversöhnlich, nun, dann schließt die Sache mit dem tragischen Chor der Griechen, und das poetische Interesse ist um so größer, der Held ist dem Fatum erlegen. Honorar und Beifall sind ebenso groß. Was nun aber die Cholera betrifft, um wieder auf besagten Hammel zu kommen, denn ich sehe, du wirst ungeduldig, so behandeln wir selbige epigrammatisch. Ein glücklicher Augenblick, ein glückliches Wort, ein ungewöhnlicher, plötzlicher genialer Versuch des Arztes – das gibt dem Dichter das Epigramm, dem Arzte das Mittel gegen die Cholera. Das Epigramm heilt selten, wie du weißt, aber es trifft den empfindlichen Punkt; Leben und Tod steht in Gottes Hand, sagen wir; das schnelle Ende ist ebenfalls ein Zeichen, daß wir auf rechtem Wege waren, es ist Schickung, daß die Natur gerade den negativen Pol und nicht den positiven Pol berührt hat. Diese epigrammatische Behandlung ist ebenfalls sehr künstlerisch, schon Goethe sagt im Faust:


Wir sind gewohnt,

Daß die Menschen verhöhnen,

Was sie nicht verstehen. –


Der Mediziner ist der Faust der Materie. Er verschreibt[222] sich dem Teufel, um das Wesen der Natur zu ergründen. Der Teufel besteht nämlich in den verborgenen Kräften derselben.

Uff, setz dich hierher, altes Brüderchen, laß mich ausreden, es gibt sonst ein Unglück, ich fühle alle meine Studien und Betrachtungen auf der Zunge. Wenn ich dir den jetzigen Zustand unserer Medizin schildern sollte, – denn das müßte ich, um dir unsere Behandlung der Cholera darzutun – so wäre eine Darstellung der ganzen Kulturgeschichte notwendig. Erschrick nicht, ich begnüge mich mit einigen Strichen, die letzten Jahrhunderte zu bezeichnen. Die Medizin ist immer abhängig von dem Zustande der laufenden Bildung, so wie es denn nach deinen eigenen Worten keine vereinzelte Erkenntnis gibt. Alles hängt an dünnen, oft kaum sichtbaren Fäden zusammen. Die Philosophie lernt von der Naturkunde, die Naturkunde von der Philosophie, und die Medizin ist ein Dekokt aus beiden. Die Geschichte der Medizin läßt sich am tiefsten aus einer Geschichte der Philosophie studieren, – aber die Cholera ist gekommen, alle entdeckten Gesetze sind an ihr gescheitert, Hegel persönlich ist von ihr weggerafft worden, die Wissenschaft steht wieder vor ihr wie vor einem dunkeln Vorhange. Diese Cholera ist eine vollkommen neue Manifestation der Welt, es muß erst wieder eine neue Poesie kommen, um sich ihrer zu bemächtigen, damit einer neuen Wissenschaft die Augen geöffnet werden. Die Sprache dieser Pest ist unserer Gelehrsamkeit unverständlich, sie paßt in keines unserer Wörterbücher, das Glück und das Genie schnappt hier und da ein Wort auf und rettet einen Menschen, aber an Gesetze dieses neuen Idioms ist nicht zu denken, wir warten wie die Juden auf den Cholera-Messias.«

»Du bist ein systematischer Narr,« erwiderte Valerius auf die lange Provokation, »aber der Schluß ist mir zu ernsthaft, um über deinen Gallimathias zu lachen, ich muß einen andern Arzt für Ludmillen suchen.«[223]

»Ich schwöre dir's, Freund, der Klügste wie der Dümmste ist vor dieser Krankheit gleich klug; sie ist das neue Welträtsel, und das wird nicht in acht Tagen gelöst; das Mädchen ließ sich gut an, du mußt es dem Zufall überlassen – die Cholera ist ein Spott der Gottheit über das absolute Wissen der Menschen, sie wird den Pietismus befördern und die Unverschämtheit zügeln, trink, lieber Valerius, trink, du bist noch ganz blaß.«

Valerius trieb den kleinen Schwätzer nach dem Lazarett, das Schicksal Ludmillens beängstigte ihn um so mehr, da er die Unzulänglichkeit der Medizin gegen die Krankheit schildern hörte. Er selbst wollte unterdes bei Stanislaus' Vater eine Visite machen, und um jeden Preis Konstantien Nachricht zu geben suchen. In Lessels Konditorei, die sie eben verließen, wollten sich die Freunde nach ungefährem Verlauf einer Stunde wiederfinden.

Valerius war sehr gespannt, wie er den alten Grafen treffen würde. Das Schicksal des Landes hatte sich gewaltig umgestaltet, halbe Maßregeln schienen mehr als je verderblich. Nach der Schlacht von Ostrolenka war Skrzynecki ohne Aufenthalt nach Warschau gefahren, um der erste Bote zu sein, den Reichstag auf das günstigste vom Zustande der Dinge zu unterrichten, die Nachteile der Schlacht soviel als möglich zu verdecken. Es war ihm auch gelungen; der Tag von Ostrolenka konnte ihn den Oberbefehl kosten, aber der Reichstag und die Regierung bezeigten ihm ein ungeändertes Vertrauen und ließen das Schicksal des Krieges mit den ermunterndsten Ausdrücken in seinen Händen.

Der alte General Malachowski sammelte die Trümmer der auseinandergerissenen Armee, die versprengten Truppen fanden sich aus eigenem Antriebe wieder zusammen, Diebitsch verfolgte seine etwaigen Vorteile nicht weiter, da sein Truppenverlust noch größer gewesen war als der des polnischen Heeres. Er rückte nach der Weichsel hin und schien die[224] Verhältnisse abwarten zu wollen, ob sich ein Übergang bewerkstelligen ließe. Bei Beurteilung dieses Mannes, soweit diese die militärische Seite des polnischen Krieges betrifft, muß der Historiker sehr vorsichtig verfahren, und die geringen Erfolge des Feldzugs nicht ohne weiteres dem Ungeschick des Anführers zuschreiben. Bei einem genauen Blicke ins russische Lager stellen sich vielerlei verwickelte, lähmende Zustände dar: das russische Nationalinteresse ist keineswegs so indifferent, daß es ihm vollkommen gleichgültig wäre, unter einem Ausländer zu fechten. Eifersüchteleien der Art, nachlässig ausgeführte Befehle von seiten der russischen Generale kommen in Fülle vor. Zu Petersburg hatte man keinen Maßstab für die moralische Kraft eines auf den Tod kämpfenden Volkes, man schrieb es dem mangelhaften Eifer oder der unzulänglichen Geschicklichkeit des Heerführers zu, daß die Insurrektion nicht gedämpft werden könne, man schickte Paskiewitsch, um Diebitsch zu unterstützen. Dieser konnte in solcher Maßregel nicht wohl etwas anderes als seine halbe Absetzung erblicken, der Übergang über die Weichsel war äußerst bedenklich, weil man dadurch die Kommunikation mit Rußland völlig verlieren konnte, die Cholera wütete im Heere, und so sah man Diebitsch von allen Seiten gelähmt, niedergeschlagen in seinem Lager sitzen. Da ergriff ihn die Cholera selbst und raffte ihn hinweg. Paskiewitsch, der bald darauf eingetroffen war, hatte mit plumper Zuversicht das Heer ohne weiteres über den Fluß geführt, Skrzynecki hatte nicht das mindeste dagegen getan, sogar all die kleinen Vorteile verschmäht, die bei solch einem Kriegsereignisse zu erringen sind, auch wenn der Übergang selbst nicht gewehrt werden kann. Die Russen rückten nun auf dem linken Weichselufer gegen Warschau heran, und die polnische Armee wich von Position auf Position zurück.

So standen die Sachen, als Valerius seit langer Zeit zum ersten Male wieder das Palais des Grafen betrat. Der[225] Herr des Hauses war schon am frühen Morgen aufs Landgut hinausgefahren. Das war dem Deutschen eigentlich erwünscht, denn es gewährte ihm die beste Gelegenheit, auf dem Landgute selbst zu erscheinen. So hoffte er, auf das bequemste wieder in Konstantiens Nähe zu gelangen. Als er eilig aus der Tür des Palastes trat, rannte ein hastig Vorübereilender gegen ihn und stieß ihn schmerzlich an den wunden Arm, welchen er in der Binde trug. Der heftige Schmerz preßte ihm einige harte Worte aus, der Vorüberstürmende blickte sich heftig um – es war das wilde Gesicht Slodczeks, das dem Verletzten trotzig in das Auge blickte.

Leopold war noch nicht in der Konditorei, als Valerius dort ankam. Er las Journale, um sich über die Stimmung des Volks zu unterrichten, da in seine Krankenstube nur Einzelnes, Unvollständiges gedrungen war. Überall fand er die heftigste Entrüstung gegen Skrzynecki und die Untätigkeit des Heeres, überall fanatisches Lob des alten Krukowiecki, der als Gouverneur von Warschau eine rastlose, energische Tätigkeit entwickelte.

Ein Geräusch auf der Straße zog ihn vom Lesen ans Fenster. Ein hoher Offizier ritt langsam daher, die Leute, welche sich eben auf dem Wege befanden, waren überall stehen geblieben, schwenkten die Hüte und Mützen und riefen laut. Valerius öffnete das Fenster, um die Worte zu verstehen – »in die Schlacht, in die Schlacht, Vater,« waren die ersten Worte, welche er vernahm. Mit Staunen erkannte er in dem vorüberreitenden Offizier jenen alten graubärtigen Mann wieder, welchen er auf dem Balle beim Grafen Kicki gesehen, den Stanislaus mit soviel Aufmerksamkeit und Teilnahme die Treppe hinab begleitet hatte. Seine harten, finstern Züge waren in diesem Augenblicke durch eine gleißende Freundlichkeit geglättet, das schnelle, graue Auge flog wie ein spielender Raubvogel links und rechts unter die[226] immer größer werdende Menge. »Hilf, Krukowiecki, Vater Krukowiecki hilf uns!« rief man von allen Seiten. Zu seinem Erstaunen sah Valerius seinen kleinen Mediziner mitten unter den Schreiern, er schwenkte sein weißes Hütchen, und mit dem ihm eigentümlichen Lächeln, das halb gutmütig halb ironisch, immer aber einnehmend aussah, schrie er tapfer mit: »Hilf, Krukowiecki, Vater Krukowiecki, hilf uns!«

Der Angerufene sprach etwas zum Volke, er war aber schon zu weit entfernt, als daß man es am Fenster der Konditorei hätte verstehen können. Jubel und Vivatrufen des Volkes kam hinterdrein.

»Das also ist Krukowiecki!« sagte der Deutsche vor sich hin, »ein unheimlicher Mann des Volkes für mich, ich weiß selbst nicht warum – was fällt denn dir ein, du unverbesserlicher Narr,« rief er dem eintretenden Leopold zu, »mit dem Volke zu schreien, was hast du denn für ein Interesse an Krukowiecki?«

»Ich lache und rufe,« erwiderte dieser, »mit allen aufgeweckten Leuten, 's ist immer etwas Munteres und Belebendes für mich darin, wenn die Menge jemand zujauchzt, etwas verlangt; die Äußerung ist so natürlich, man vergißt einen Augenblick unser künstliches Staatsleben – und dieser Krukowiecki hat ein so interessantes Gesicht, ich sage dir, Freundchen, in diesem Gesicht liegt ein ganzes Stück Weltgeschichte.« –

»Wenn's nur ein gutes ist.« –

»Ja, das ist die Frage. Du weißt, ich habe solch einen gewissen physiognomischen Instinkt: dies eckige, starre Gesicht, dieser brutal heroische Kopf, der sich in den Nacken zurückwirft, bedeutet etwas Wichtiges.« –

»Was macht die Kranke?«

»Nichts, mein Lieber, gar nichts.« –

»Sie ist doch nicht –«

»Nein, sie ist nicht mehr, das heißt, sie ist dem Geheimnis[227] der modernsten Philosophie, der ostindischen Pest verfallen, in populärer Sprache: sie ist tot – keine Vorwürfe, Lieber, die besten Ärzte haben sich mit ihr beschäftigt nach unserem Weggange, sie haben alle Systeme probiert und der Cholera tapfer beigestanden – wir wandeln hier in einem dunkeln Tale, das neue große Geheimnis, das aus Kalkutta gekommen ist, lehrt uns wieder, daß wir nicht wissen, in welchen Atomen das Leben besteht. Wenn wir erst etwas Lebendiges erschaffen lernen, etwas, das Puls und Odem von uns empfängt, dann wollen wir der Medizin die Anmaßungen vergeben.« –

»Kasimir!« rief Valerius, aus einem traurigen Nachsinnen auffahrend – der junge Wolhynier trat nämlich eben ins Zimmer – »wissen Sie, wo Ludmilla ist?«

Kasimir zog die Stirn zusammen.

»Im Grabe ist sie.«

»Was?«

Und nun folgte rasch die Erzählung. Der Wolhynier schwieg noch eine Weile, als sie beendigt war. Dann ergriff er rasch Valerius' Hand: »Sie werden mich verdammen, Herr, und Sie haben vielleicht nicht unrecht. Ludmilla kam aus den dreisten Händen des Russen in die meinen, sie hatte keine Schuld – aber – mit meiner Liebe war es aus, ich verließ sie – zu was anderem, Wichtigerem, aber hier ist nicht der Ort, vermeiden Sie überhaupt in diesen Tagen dies Haus.« –

Valerius überhörte die letzten Worte, sagte Leopold Adieu, unterrichtete ihn, wo er zu finden sei, und ging mit Kasimir.

»Wir sind bei einer bedenklichen Krise angekommen,« hub dieser mit leiser Stimme an, als sie auf der Straße waren, »haben Sie vorhin Krukowiecki durch die Straßen reiten sehen? Ich fürchte, ich fürchte, mit diesem Streicheln der Menge pflegt er nicht nur seine Eitelkeit, sondern bereitet[228] seinen stolzesten Plänen ein Fest. Ich glaube, es muß etwas von unserer Seite geschehen, ich spreche offen und rückhaltslos zu Ihnen. Alles ist bei der Armee, was dem Treiben Krukowieckis entgegenarbeiten könnte, mich führt ein zufälliger Auftrag nach Warschau, ich habe in diesem Augenblicke niemand, dem ich meine lebhafte Besorgnis mitteilen könnte, ich glaube, Ihr Herz und Ihre Ansichten zu kennen, bieten Sie mir die Hand, vielleicht können wir mancherlei abwenden.«

Valerius gestand, daß er jetzt völlig außer genauer Kenntnis der Verhältnisse sei, er wisse nicht, worauf dieser Eingang hinausgehen solle.

»Sie sind ein Demokrat,« fuhr Kasimir fort, »ich bin es auch – glauben Sie nicht, daß ich Mißbrauch mit diesem Worte treibe. Ich habe es Ihnen angemerkt, daß Sie viele Täuschungen der Art in unserem Lande erfahren haben, geben Sie uns deshalb nicht auf, Sie finden Repräsentanten für alles unter uns. Eine allgemeine, gleichartige Ausbildung wurde durch die Herrschaft der Fremden unmöglich gemacht; es ist nicht zu verwundern, wenn sich die verschiedensten Richtungen unter uns finden. Mein schweizerischer Lehrer hat mich die größte Unbefangenheit in Rücksicht auf Parteien und Zustände gelehrt, vergeben Sie's, wenn Sie hier und da einen Rest nationalen Leichtsinns an mir entdecken, ich bin jung, und es ist gar schwer, das Temperament, die Atmosphäre jedes Landes nach den Forderungen, selbst nach den eigenen Forderungen der Bildung zu fügen. Man kann im Grunde nicht mehr verlangen, als daß ein jeder den lebendigen Willen dazu habe, und, glauben Sie mir, den habe ich. Vielleicht gestehen Sie mir später zu, daß ich unbefangener bin als Stanislaus; denn ich habe es wohl bemerkt, wie Sie mißtrauisch auf ihn blicken, obwohl er zu unsern kultiviertesten jungen Edelleuten gehört. Sie werden nicht leicht ein Land finden, wo die Bildung so eifrig anerkannt[229] und geschätzt wird, als Polen, vergeben Sie uns bei der Beurteilung auf einen Augenblick die nationalen Leidenschaften, welche dem Fortschritte so vielfach hindernd in den Weg treten.

Und nun näher zur Sache! Wir mögen noch so eifrige Volksfreunde sein, nimmer können wir es für wünschenswert halten, das Regiment unmittelbar in den tausend Händen der Menge zu sehen. Und ich fürchte, darauf geht es hinaus. Ich setze nicht den entferntesten Zweifel in den unbegrenzten Patriotismus Krukowieckis, aber ich bin dennoch überzeugt, er bietet in diesem Augenblicke nur alles auf, um Skrzynecki zu stürzen, selbst mächtiger, gewaltiger zu werden. Solange ich in Warschau bin, beobachte ich diesen Mann, er ist von glühenden Leidenschaften getrieben, man sollte also meinen, er könne sich nicht verbergen, und dennoch darf ich nicht sagen: Ich kenne ihn. Die jedesmal hervortretende Leidenschaft scheint im Augenblicke ihrer Tätigkeit die allein herrschende seines Wesens zu sein, die Größe der Affekte verbirgt den eigentlichen Charakter des Mannes mehr, als sie ihn enthüllt. Nie aber habe ich diese Sättigung in seinen Zügen gesehen wie heute. Irgend ein drohender Streich muß bereits ausgehoben sein. Warschau ist in der bedenklichsten Aufregung; das konnte nur einem entgehen, der wie Sie zum ersten Male seit vielen Wochen aus der Krankenstube tritt. Die Entrüstung ist allgemein, daß Skrzynecki fortwährend ohne Widerstand dem Feinde weicht; die Entrüstung ist gerecht, ich teile sie vollkommen; aber ein Aufstand, wie er in diesen Straßen droht, ist nicht das Mittel. Unordnung erzeugt keine Vorteile. Wie es nun immer zu gehen pflegt bei Völkern, die lange unter grausamem Drucke schmachten, alles Unerwünschte bildet sich in Gemütern zunächst in Mißtrauen, in Verdacht aus. Wo der Fortgang zögert, da fürchtet man russischen Einfluß. Das ist das Entsetzlichste unserer Sklaverei, daß sie alles gesunde Vertrauen in die[230] bewährtesten Patrioten tötet. Ein Teil dieses Unglücks kommt mit jeder Sklaverei, aber das förmliche System der russischen Bestechung, wie es von der Katharina angefangen hat, ist schlimmer als alles, was anderswo derartiges ein Volk gelähmt hat. Nun hat sich mancherlei zusammengefunden, den Verdacht des Volkes zu steigern; das Benehmen der Generale Jankowski und Bukowski, welche damals Turno im Stiche ließen, als ein russisches Armeekorps mit Leichtigkeit vernichtet werden konnte, war höchst auffallend und beunruhigend. Diese und andere sitzen noch in Warschau, es erfolgt kein Urteilsspruch, das Volk glaubt Leute protegiert, in denen es die abscheulichsten Verräter des Vaterlandes sieht. Der Feind rückt täglich der Hauptstadt näher, eine kräftige, glühende Armee tut keinen Schwertstreich, Warschau ist in den Händen dessen, welcher ein leidenschaftlicher Gegner des Generalissimus ist – zweifeln Sie noch, daß wir bei diesen bedrohlichen Elementen täglich einen gefährlichen Ausbruch des Volksunwillens zu fürchten haben?

Glauben Sie nicht, daß ich übertreibe, ich bin ein eifriger Besucher der patriotischen Klubs und kenne die Stimmung. Wenn ich auch das wilde, ungeordnete Drängen unserer Demagogen gar nicht billige, so muß ich doch den Ursprüngen ihrer Meinung recht geben. Lassen wir die Frage ungelöst, ob es ratsam war oder nicht, den Bauer plötzlich und ganz von aller Hörigkeit zu befreien; die Sache, einmal in Anregung gebracht, von der allgemeinen Aufmerksamkeit in Anspruch genommen, mußte ein genügenderes Resultat geben, als sie gab. Die demokratische Jugend hat die Revolution geschaffen, sie ist groß, groß an Anzahl, der Kern des Heeres, ihre Meinung ist weit und tief verzweigt in die Nation, sie konnte mit Recht einen Anteil an der neuen Regierung verlangen. Sie hat sich ihn ertrotzen müssen von der aristokratischen Partei, und die späte Aufnahme Lelevels in die Regierung hat sie belehrt, daß von[231] dem guten Willen der alten Aristokraten nicht das mindeste zu erwarten sei. So stehen wir in diesem Augenblicke bedrohter als je zwischen den Extremen, und alle vermittelnden Schattierungen treten jetzt völlig in den Hintergrund. Was ist zu tun? Sie kennen Stanislaus' Vater genau, wollen Sie mit mir zu ihm eilen? Wir finden bei ihm eine große Anzahl bedeutender Männer, die stolze, eigentliche Aristokratenpartei, und die Humanitätsaristokraten, wie ich sie nennen möchte, unsere Doktrinärs und alles, was nicht direkt zu den Männern des Klubs gehört, erscheint fast täglich in seinem Hause.«

»Er ist nicht in der Stadt, sondern auf seinem Landgute.«

»Ich weiß das; eben dort versammelt sich die wichtigste Gesellschaft. Lassen Sie uns einen Wagen nehmen und hinausfahren.«

Dieser Vorschlag war Valerius sehr angenehm. Nach einer Viertelstunde rollten sie schon aus dem westlichen Tore der Stadt über die Ebene hinweg. Das Landgut lag eine halbe Meile seitwärts von der Straße, die nach Lowicz führt, in einer freundlichen Birkenwaldung. Es war später Nachmittag, als sie ankamen, die heiße Sonne des August lag drückend auf der Gegend und die schattigen Gärten, welche den Landsitz umgaben, winkten ihnen einladend. Sie fanden die Gesellschaft in den dunkleren Partien des Gartens; bei der ersten Gruppe, welche sie trafen, befand sich der Graf. Es war leicht zu erkennen, wie ihn der Anblick des Deutschen nicht eben angenehm überraschte, sein feiner Weltton bedeckte jedoch schnell den flüchtig erscheinenden Ausdruck des Mißbehagens mit den höflichen Zügen des zeremoniösen Wirts. Das Vorstellen Kasimirs, dessen unumwundene Erklärung, was ihn herführe, verdrängten schnell alle übrigen Interessen, eine stürmische Diskussion begann, bald dieser, bald jener der Anwesenden trug den ab- und zugehenden Bedienten auf, das Anspannen und Vorfahren zu bestellen.[232]

Es waren wirklich bedeutende Repräsentanten der damaligen höheren Gesellschaft Polens zugegen, und fast alle Schattierungen waren vertreten. Ein ernster, sinnender Mann ergriff zuerst das Wort und erklärte mit sehr gewandter Motivierung und nachdrücklicher Rede, daß die Unzufriedenheit des Volkes keineswegs grundlos sei, daß man ernsthaft und schnell mancherlei ändern müsse. Es war dies Bonaventura Niemozewski, welcher den nächsten Übergang zur Volkspartei bildete. Sein Bruder Vinzenz, von kleinerer Statur, mit einem blassen, von Nachdenken und Studien gefurchten Gesichte, schloß sich ihm an. Er tat dies aber seiner Natur gemäß mit sehr viel Schonung, vielfachem Vorbehalt und in mehr künstlichen als energischen Worten. Diese beiden Brüder waren Häupter einer Richtung im Reichstage, welche man im Vergleiche mit ähnlichen Erscheinungen des französischen Parlaments die doktrinäre nennen dürfte. Ihr Verlangen, geschichtliche Einrichtungen nicht ohne weiteres dem rationellen Ermessen unterzuordnen, ihre Berufungen auf die englische Verfassung und ihre große Vorliebe für dieselbe charakterisierten sie. Eine hervorstechende historische Gelehrsamkeit jeder Art und ein wohl durchgearbeitetes Element humaner Kultur zeichnete sie aus.

Dem Verlangen Bonaventuras opponierte sogleich mit großer Lebhaftigkeit ein schlanker, glänzender Mann mit jenen Maintiens und kurzen, stolzen Bewegungen des Kopfes, die den Vornehmen par exellence eigen zu sein pflegen. Es war Gustav Potocki, und er repräsentierte die Spitze der ultra-aristokratischen Koterie. Ein sehr edel und einnehmend aussehender Greis von feinen, sanften Manieren, die mehr das Edle als das Vornehme ausdrückten, milderte Ansicht und Ausdrücke des stolzen Potocki, obwohl er selbst zur Partei desselben gerechnet wurde. Dieser Greis war der Fürst Adam Czartoryski. Ein dritter Mann, welcher seit einiger Zeit mehr zu dieser aristokratischen Richtung hinneigte, als[233] man von ihm erwartet hatte, ja mehr, als ihm eigentlich selbst natürlich war, schloß sich in diesem Augenblicke lebhaft und mit vielem Feuer den Worten Bonaventuras an. Es lag so viel Imponierendes in seinem Benehmen, seinen Mienen, seinen Ausdrücken, daß man leicht davon auf sein Amt schließen konnte, in welchem er diese Art von Repräsentationen vielfach geübt hatte. Er saß nämlich auf dem Marschallstuhle des Reichstags, und ihm gebührte das wichtige Verdienst, die Verhandlungen dieses Staatskörpers in einer so stürmischen, revolutionären Zeit mit einer bewundernswürdigen Humanität, Unparteilichkeit und Kraft, ja mit einer Größe geleitet zu haben, wie sie selten in der Geschichte angetroffen wird. In Ladislaus Ostrowski spiegeln sich alle Vorzüge eines modernen Polen ab, und von den Fehlern desselben finden sich nur die unbedeutenden an ihm. Kein übermäßiger persönlicher Ehrgeiz, kein Standesvorurteil, kein Fanatismus irgend einer Art darf ihm vorgeworfen werden, und nur kurze Zeit hat er sich vielleicht zu weich und nachgebend gegen Standesgenossen wie Gustav Potocki und ähnliche bewiesen. Er ist einer der glänzendsten Charaktere jener Revolutionszeit, und nur der neben ihm stehende Bruder Anton Ostrowski übertraf ihn an unerschütterlich gleichmäßigen Grundsätzen patriotischer Tugend und an einer Popularität von patriarchalischem Gepräge. Diese beiden Brüder umfassen in ihren Persönlichkeiten die schönsten Ausdrücke von polnischem Patriotismus. Während Ladislaus den ganzen adeligen, chevaleresken, liebenswürdigen, glänzenden Teil der Nation darstellte und alles, was zu diesem gehörte, fesselte und hob, nahm Anton, als Kommandant der Nationalgarde, beinahe völlig die Stellung Lafayettes in Frankreich ein, repräsentierte die edelsten demokratischen Ansichten, war Abgott der Bürger im engen Sinne des Wortes.

Es war natürlich, daß er ohne Umschweife die Partei Niemojewskis ergriff, ja noch darüber hinausging. Seine[234] ernsten, traurigen Worte über den Zustand des Vaterlandes machten auf alle, selbst auf Potocki und den Herrn des Hauses einen tiefen Eindruck, und es herrschte noch ein langes Schweigen, als er schon weggegangen war, um eiligst nach Warschau zurückzukehren.

Valerius hatte in Betrachtung dieser Gruppe alles übrige vergessen, und erst, als die Leute sich trennten, und alle nach der Stadt aufbrachen, dachte er daran, sich nach Konstantien umzusehen. Wie es zu gehen pflegt, hatte das Gerücht von drohenden Vorfällen sich dahin verwandelt, daß alle glaubten, es sei schon Trauriges vorgefallen. Der Herr des Hauses, die Staatsmänner fuhren eiligst nach Warschau, und was an unwichtigen Besuchen da war, lief erschrocken und fragend durcheinander. Kasimir war mit dem Grafen Heinrich Ostrowski nach der Stadt gefahren und hatte Valerius dringend gebeten, sogleich nachzukommen. Dieser eilte in das Schloß und fragte nach der Fürstin. Ein vorübereilender Bedienter deutete auf die offene Saaltür.

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 2, Leipzig 1908, S. 211-235.
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