33.

[290] Manasse lag auf dem Tode; die letzten Monate, wo er sich von seinem Sohne verlassen glaubte, wo sein Besitz in fortwährender Gefahr schwebte, hatten ihn reißend schnell ans Grab geführt; der Freudenmoment des Wiederfindens hatte seine Kraft erschöpft.

»Behalte, mein Sohn Joel, behalte den Rock, den du zur Freude deines Vaters wieder angezogen hast; bleibe ein Jude, und du behältst dein Volk zum Troste, deine Väter und das Unglück deiner Väter, du behältst reine Tränen und ein stilles Herz; laß mich gelitten haben für dich, mein Sohn! Ich habe gelebt unter den Christen, mit ihnen, für sie, ich habe eine ihrer vornehmsten Töchter geliebt, sie hat mich wiedergeliebt, solange sie mich hielt für ihresgleichen, du[290] bist ihr Sohn, Gott meiner Väter, verzeihe mir diesen Abfall von meinem Volke, verzeihe mir dies Geständnis, es ist mein einziges Kind, dem ich's sage, die Wege der Menschen sind wunderbar, es kann ihm nützen; die schöne Dame, Joel, die du gesehen hast bei des Herrn Grafen Stanislaus stolzem Vater, die schöne Dame aus Deutschland ist die Tochter deiner Mutter. Gottes Wunder! ich habe sie angeschaut, als sie bei mir vorbeigeritten ist, in Warschau, wie ein kindischer Knabe, sie sieht ähnlich ihrer Mutter, wie du mir siehst ähnlich, Joel, da ich jung und töricht war; das Herz ist mir im Leibe gesprungen, ich habe eine sündliche Erinnerung gehabt an die Zeit, wo ich meinem Volke untreu ward mit einer Tochter der Abgefallenen, ich habe es gebüßt mit einer strengen Strafe, die ich mir auferlegt. Frage nichts, mein Sohn, es wird mir sauer, davon zu sprechen, im schwarzen Kästchen findest du Briefe und Zeichen, es wird mir schwach, mein Sohn, rücke mir das Kopfkissen.« –

In dem Augenblicke drang wilder Lärm ins Haus; die Russen hatten Kunde erhalten von den Fremdlingen, die Manasse beherbergte, von Manasses Reichtume, den er vergraben halte; Valerius flüchtete auf Joels Geheiß hinten aus dem Hause, Manasse, im Sterben gestört, riß sich mit letzter Kraft aus dem Bette und stellte seine Entsetzen erregende Todesfigur dem Feinde entgegen.

»Ich habe nichts als mein Kind Joel, weicht von der Schwelle eines sterbenden Mannes, oder der Fluch Adonais zerschmettre euer Gebein und eure Seelen.«

Man stieß ihn beiseite und durchsuchte das Haus; er war auf die Erde gefallen, und der starke Wille rang mit dem stark eindringenden Tode.

Unter polterndem Geräusch, mit diesem oder jenem beladen, fluchend zogen die Soldaten wieder ab – »steig in den Keller – Joel, grabe links im Winkel – schnell – bring mir das schwarze Kästchen – schnell.« –[291]

Joel wollte den sterbenden Vater nicht verlassen, aber krampfhaft schleuderte ihn dieser von sich – »das Gold allein – erhält uns – in der Menschenwüste – fort, Joel!« –

Joel eilte in den Keller, fand das Kästchen und brachte es Manasse, der mit brechenden Augen und schwer arbeitender Brust am Boden lag. Beim Anblick desselben öffneten sich noch einmal die Augen weit, er griff danach und stieß noch folgende Worte schnell heraus: »Ich habe edel sein wollen, sie haben mich verachtet – ich habe mich um nichts mehr gekümmert als um das Geld, es ist das beste, was wir haben, mehr' es, ach, Joel, mein Sohn!« –

Das Kästchen entfiel ihm, er griff mit den magern Händen heftig nach dem Gesichte seines Kindes und verschied.


Tief im Hintergrunde des Gemütes lagen bereits diese Verwüstungstage, als Joel, ein wandernder Bandjude, und Valerius, ein Bauer im südlichen Polen, über die Fläche hinstrichen – es war über einen Monat seit dem Falle Warschaus vergangen, so langsam hatten sie laviert, um durch den herrschend gewordenen Feind hindurchzukommen bis in die Nähe des Krakauschen Gebietes. Unterdessen war die polnische Armee nach mancherlei stürmischen Versuchen in der Wahl eines neuen Generalissimus, in der Wahl eines neuen Feldzugsplanes an die Preußische Grenze gedrängt worden, war dort übergetreten, hatte die Waffen niedergelegt, war aufgelöst; unterdessen war auch der rauhe Herbstwind tätig gewesen, das Laub fing zeitig an von den Bäumen zu fliegen, der Himmel ward grau und grauer. Die beiden verwüsteten Wanderer sprachen wenig oder nichts von den nächsten Dingen, nur zuweilen, wenn sie ruhten und das kümmerliche Mahl aus dem Reisesacke sie gestärkt hatte, sprachen sie, und dann wurden es stets allgemeine Beziehungen, und es klang wie verlorenes Wort in eine Wüste hinaus.[292]

In diesem südlichen Teile des Landes fanden sie mitunter eine Laubholzung, und an einem bleichen Nachmittage, als sie, eine solche verlassend, wieder ins Freie traten, sahen sie am Horizonte Krakau, die alte ehrwürdige Polenstadt, die Stadt des polnischen Gesanges und der Kirchen, vor sich mit den plumpen Türmen.

Sie setzten sich unter einen Eichenbaum, der spärlich gegen den rauhen Wind schützte, und verzehrten ihr hartes Brot, zu dessen Würze Joel einige Zwiebeln hatte. Als das kümmerliche Mahl beendigt war, sahen sie noch lange schweigend in die traurige Welt hinein; in kleiner Entfernung lagen mehrere tote Pferde zerstreut umher – das Rozyckische Korps hatte sich hier noch lange gewehrt; ein Mensch war nirgends zu sehen.

»Das Studium der Weltgeschichte,« hub Valerius an, »ist unser trauriger Trost; jede neue Epoche findet eine neue Stellung zu ihr, eine neue Erklärung derselben, und doch halten wir uns immer an diesen einzigen Trost, weil wir uns immer erst beschwichtigt glauben, wenn die Dinge auf ein Gesetz geführt sind. Menschen! auch unser Stolz ist ein mitleidig gewährter Sonnenblick, damit wir unsere Schwäche vergessen. Vor kurzem war es unsere natürlichste geschichtliche Forderung, daß Polen bestehen müsse, das Schicksal entscheidet anders, wir erfinden ein anderes geordnetes Räsonnement, damit wir unter einem neuen welthistorischen Gesetze doch den Anschein bewahren, als beherrschte unser Geist die Welt. Menschen! Und wir sind einer wie der andere.

Ich habe nun die Polen gesehen; sie sind wieder besiegt, und ich glaube jetzt, sie werden nie siegen, sie werden zermalmt unter einer großen historischen Kombination. Von Zeit zu Zeit wird die Welt verjüngt durch frische, von aller Kultur unberührte Völker. So kamen einst die Römer gegen die Griechen auf, die Germanen gegen die Römer. Die asiatischen[293] Slawen haben ihre Zeit noch nicht gefunden, vielleicht finden sie selbige nie, sie scheinen unschöpferisch, in der Einzelheit unbegabt; vielleicht bilden sie doch einst ein neues großes Element der Weltgeschichte. Aber ihre Vorposten sind sicher verloren, wie es einst den Vandalen, den Alanen, selbst den Hauptstämmen der Goten ergangen ist: der Wende, der Obotrite, Wilze, Leche ist früh zertreten worden, der Böhme und Mähre ist langsam aufgezehrt in germanischem Wesen, der Pole ist tief angesteckt von alt- und neueuropäischen Verlangnissen, Ideenrichtungen, er will sogar nichts Eigenes mehr als einen Namen, er verlangt halb französischen halb sonstigen Zuschnitt; deshalb hat der Pole keine Zukunft, er unterliegt dem eigentümlicheren Rußland. Findet dieser Repräsentant des mächtigsten Slawentums, findet er Regenten, die ohne Rücksicht auf das alte Europa Rußland in ganz eigener Nationalität zu einer Gewalt aufbilden, so kann ein neues welthistorisches Element entstehen, das bisheriges freilich zermalmen müßte.

Selbst ohne so große Ausdehnung und Bedeutung kann Polen auf Jahrhunderte als Polen verloren sein, und was jahrhundertelang sich verliert, das wird ein anderes. Lasset singen: ›Jetzt ist Polen doch verloren!‹

Wer sich töricht unterfängt, in Schnelligkeit die Weltgeschichte meistern und ändern zu wollen, wie wir in den letzten Jahren als eine Kleinigkeit versuchten, der beklage sich nicht, wenn er zugrunde geht. Handle, wer sich berufen fühlt, aber keiner wage ins einzelne vorauszubestimmen, was werden soll; wir kennen die Welt nur einen Schritt weit. Ich will in meine Heimat gehen, mir eine Hütte bauen, das Weite auch ferner betrachten, aber nur fürs Nächste wirken.

Hofft ihr Juden nicht seit achtzehnhundert Jahren umsonst auf ein wieder erwachend jüdisch Reich, ist das nicht euer Hauptunglück? Warnet die Polen, damit sie nicht mit ihrem starr erhaltenen Schmerze europäische Juden werden?[294] Ihr wollt es heut noch nicht glauben, daß ihr in einem neuen Umschwunge der Welt verloren gegangen seid, und so seid ihr der ewige Jude geworden, der nicht sterben kann und überall leidet. Gott bewahre dies Land vor einem ewigen Polen! Wer nicht sterben kann, lebt auch nicht. Diese Welt kreist einmal nur zwischen Leben und Sterben. Wie glücklich sind die Schotten in Engländer aufgegangen, wie schwer wird den Irländern der Tod, die schon lange Engländer sind, wie bedroht jeder Ruck die Scheinpflanze Belgien, wie ringt Spanien in tausend Schmerzen, weil die einzelnen Reiche nie sterben wollten!«

»Wie sollen wir sterben, wir armen Juden! weiser Christ?« sagte Joel.

»Wenn ihr den Buchstaben der Tradition aufgebt, aufgeklärte Juden werdet, euch emanzipieren laßt, so sterbt ihr, freilich langsam und schmerzhaft. Von jetzt an, wo dieser Gedanke aufkommt, werden noch drei Generationen zuckend leiden, wenn's in Stille fortgeht und nicht nach dem gläubigen Unglauben schlechter Christen eine ganz neue Offenbarung über die Welt kommt. Gesteht's nur, daß ihr just darum so hartnäckig seid, weil das Christentum aus euch erwachsen ist, weil ihr die altklugen Väter bleiben, den überflügelnden Kindern nicht weichen wollt; es gäb' lang' keine Juden mehr, wäre das Christentum unabhängig vom Mosaismus entstanden.«

»Vorderhand will ich schachern!«

Mit diesen Worten erhob sich Joel, und die beiden Wanderer schritten im Winde, der immer mehr dunkle Abendwolken zusammenjagte, auf Krakau zu.[295]

Quelle:
Heinrich Laube: Das junge Europa, in: Heinrich Laubes gesammelte Werke in fünfzig Bänden, 3 Bände, Band 3, Leipzig 1908.
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