[86] Einer sitzt auf seinem Bette. Ein häßliches Mädchen – in ganz zerlumpter Gewandung – tritt ein und bleibt ganz nahe an der Türe stehen.
Ich hab noch keinen gehabt auf der Welt,
denn mich hat noch keiner gemocht.
Da hab ich mich vor die Türen gestellt
und hab geklagt und gepocht ....
Und bin verstummt nach manchem Jahr
und hab nur noch geschaut,
wie eins dem andern Liebstes war
oder eine einem Braut ....
Weißt du's nicht? Hast du's gezählt?
Nun ist's eine Woche fast,
daß eine sich gegen einen verfehlt
und ihn darum gehaßt ....
Leidest noch immer? Sie war es nicht wert,
die eine, daß du dich gekränkt.
Die eine, die hat sich nicht lange gewehrt,
sich längst einem andern verschenkt ....
Hast du's nicht gewußt? Weh – ich seh es dir an,
du wußtest von keinem Geschehn!
Nun fühl ich, wie ich dir weh getan –
aber nun muß ich gehn ....
Muß gehen von einer zur andern Tür ...[86]
gehen ... und immerzu ...
und wartet gar nicht weit von dir
einer wie du ....
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Während der kommenden Strophen entkleidet sie sich langsam – wie auf Befehl seiner Augen.
Sagte ich nicht, ich müsse gehn?
Bitte dich – laß mich fort!
Deine Augen dürfen so nicht sehn,
deine Augen sind wie ein Wort ....
Sind wie ein Wort von alters her,
ein Wort aus toter Zeit
das sprach zu mir einst irgendwer
und sah nur auf mein Kleid ....
Und sah nur auf mein Kleid und sah
wie du jetzt an mir empor.
Da ward ich nackt und mir selber nah,
so nah wie nie zuvor ....
Und war mir doppelt nah und sah
ihn knien vor mir wie dich,
wie du jetzt kniest – mir dreimal nah ....
Du kniest dich ganz in mich! ...
Nun kniest du in mir! ... Mein Haar ist grau,
meine Brüste sind viel zu alt,
mein Schoß ist der einer greisen Frau,
mein Blut ist kalt ...,
Aber dir ist, als müßtest du
wandeln mich aus dem Grund!
Und dir ist, als wüßtest du:
du würdest durch mich gesund! ...[87]
So ... nackt vor dir ....
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Sie liegt auf dem Bette und erbebt sich schwer während des Folgenden. Er steht fern.
Hilf mir auf! ... Deine Hand! ...
Gib deine Hand! gib her! ...
Du stehst so stumm und abgewandt –
du kennst mich nicht mehr? ...
Häßlich ... eija! ... wo ist mein Kleid? ...
Ich meinte, ich fänd's wo ich's ließ! ...
Ich wußte nicht – ich war so weit –
daß es dein Fuß verstieß ....
.......
....
[88]
Buchempfehlung
Das bahnbrechende Stück für das naturalistische Drama soll den Zuschauer »in ein Stück Leben wie durch ein Fenster« blicken lassen. Arno Holz, der »die Familie Selicke« 1889 gemeinsam mit seinem Freund Johannes Schlaf geschrieben hat, beschreibt konsequent naturalistisch, durchgehend im Dialekt der Nordberliner Arbeiterviertel, der Holz aus eigener Erfahrung sehr vertraut ist, einen Weihnachtsabend der 1890er Jahre im kleinbürgerlich-proletarischen Milieu.
58 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro