Antwort des Herausgebers an den Verfasser.

[30] Nein, theurer Freund, so ungerecht bin ich nicht, daß ich eine Schrift, wie diese ist, zum Tode verurtheilen sollte. Ich weiß, daß die Fortsetzung Ihres Tagebuches von vielen redlichgesinnten Christen mit Verlangen erwartet wird, und ich habe alle Ursache zu hoffen, daß Sie unter dem göttlichen Segen viel Gutes stiften, daß der Nutzen ihrer Bekanntmachung den zufälligen Schaden der vielleicht aus dem Misbrauche einiger unrecht verstandener Stellen entstehen möchte, weit überwiegen werde.

Freylich kann diese Fortsetzung nicht völlig den Nutzen haben, den das Tagebuch selbst haben mußte. Die Hauptabsicht desselben war, christliche Leser zum Nachdenken über sich selbst, zur genauen[30] Beobachtung und Prüfung ihrer Gesinnungen und ihres Verhaltens zu erwecken, und ihnen in Beyspielen zu zeigen, wie man dieses Geschäffte vornehmen, und worauf man dabey sehen müsse. Es kam dabey nicht sowohl auf den historischen Innhalt des Buches, als vielmehr auf die Schicklichkeit desselben zur Beförderung dieser Absicht an. Dieß haben, wie ich zuverläßig weiß, viele Ihrer Leser, Philosophen und Nichtphilosophen, Christen und Nichtchristen erkannt, und sie würden bloß aus diesem Grunde Ihr Buch allemal für nützlich gehalten haben, wenn auch der Innhalt desselben weniger interessant und gut wäre. Diese Hauptabsicht nun konnte freylich ohne die Fortsetzung erreicht werden.

Allein, warum hätten Sie das Verlangen so vieler Ihrer Leser nach dieser Fortsetzung nicht befriedigen sollen, da Sie dasselbe befriedigen konnten? Warum hätten Sie diese Gelegenheit nicht ergreifen sollen, sich und den Herausgeber in einigen Stücken zu rechtfertigen, einen[31] sehr scheinbaren Widerspruch zwischen unsrer beyderseitigen Aussage zu heben, und vornehmlich den Ihnen gemachten Vorwurf der Aengstlichkeit dadurch von sich abzulehnen, und den schädlichen Folgen desselben zu begegnen, daß Sie wirklich mehr Freudigkeit und Freymüthigkeit in allem, was zur Religion und zum Christenthume gehört, äußern?

Freylich konnte man diesen Vorwurf nicht dem Buche selbst machen; das ist, wie Sie wohl erinnern, nicht Vorschrift, nicht Beyspiel, sondern Beobachtung. Aber Beobachtungen und Erfahrungen eines Mannes, der in einem gewissen Ansehen steht, können leicht für Vorschriften und Beyspiele gehalten oder dazu gemißbraucht werden. Um so viel mehr freuet es mich, daß Sie nun Ihre Leser selbst vor dieser Aengstlichkeit gewarnet, und ihnen in so manchen Fällen das Beyspiel eines freyen Geistes, eines frohen Muthes, und eines getrosten Wesens in Religionssachen gegeben haben; so wie es mir auch ein besonderes Vergnügen[32] machet, daß Sie sich so oft und so nachdrücklich gegen alle Schwärmerey erklären, und manche unverwerfliche Beweise Ihrer Entfernung von derselben ablegen. Ein empfindsames Herz und ein lebhafter, geschäfftiger Eifer für das Gute sind gewiß keine Schwärmerey, aber sie grenzen oft nahe daran. Vielleicht finden manche Leser auch in diesem Buche Stellen, wo diese Grenzen überschritten zu seyn scheinen. Ich zweifle aber nicht daran, daß die Kürze Ihres Ausdrucks und die daraus entstehende unvermeidliche Dunkelheit Sie bey allen billigen Lesern so wie bey mir völlig entschuldigen werde. Je mehr Sie sich daran gewöhnen werden, theuerster Freund, Ihre Ideen aus einander zu setzen, (und das können Sie gewiß, denn Sie haben es schon oft sehr glücklich gethan) und je mehr Sie, anstatt Ihren Lesern bloße Winke zu geben, ihnen deutlichen und ausführlichen Unterricht ertheilen werden, desto mehr werden Sie allen Verdacht der Schwärmerey von sich ablehnen.[33]

Uebrigens finde ich in Ihrem Buche nichts, das Lesern, die nicht schlechterdings alles nach ihrem Sinne und nach ihren Einsichten gedacht, empfunden und ausgedrückt haben wollen, anstößig oder gar lächerlich seyn könnte. Am wenigsten kann ich mir vorstellen, daß ihre Landesleute und Mitbürger, bey denen doch gesunder Verstand mehr als Witz, und ernsthaftes, ruhiges Nachdenken mehr als lustige Einfälle gelten müssen, etwas gegen die Herausgabe dieser Fortsetzung des Tagebuches haben, oder gar den Innhalt und den Verfasser derselben zum Gegenstande eines eben so ungegründeten als beleidigenden Spottes machen sollten. – Stimmt der Ton, der darinnen vorkommt, nicht immer mit sich selbst überein, so wird wohl diese Verschiedenheit keinen vernünftigen Leser ärgern, da sie selbst in dem Leben des weisesten und heiligsten Menschen ganz natürlich und unvermeidlich ist. – Finden sich in einigen Briefen freye und diktatorisch klingende Ausdrücke, so sind es Briefe an vertraute Freunde, denen diese Sprache[34] die liebste seyn muß. – Kommen endlich Sätze oder Gesinnungen vor, die andere nicht für wahr und richtig halten, so werden sie niemanden aufgedrungen, geben doch immer Gelegenheit zum Nachdenken, und üben uns in der brüderlichen Verträglichkeit, die ein Hauptgesetz des Christenthums ist.

Kurz, da ich einmal entscheiden soll und muß, so halte ich die Bekanntmachung dieser Schrift für sehr nützlich. Kann sie schon nicht mehr eine solche Erbauungsschrift seyn, als der erste Theil des Tagebuches, weil hier nichts ausgesucht noch verändert ist, so wird sie doch noch immer viel Erbauung stiften können; und der nachdenkende Leser wird zugleich aus diesem schlechterdings ächten und wahrhaften Tagebuche verschiedene scheinbare Widersprüche in Ihrer Denkungsart, Ihrem Charakter, Ihren Schriften zufälliger Weise aufgelöset sehen, und erkennen können, wie unrichtig er Sie vielleicht in verschiedenen Absichten beurtheilet hat.[35]

Dieß gilt selbst von manchem Recensenten Ihres Buches. Sie haben Recht, werthester Freund, wenn Sie sagen, daß einige von ihnen den Gesichtspunkt verfehlt haben, aus welchem sie dasselbe hätten betrachten sollen. Wenigstens ist das, was sie Ihnen und dem Freunde, durch dessen Hände das Tagebuch erst gegangen ist, zum vornehmsten Fehler anrechnen, daß man nämlich nicht gewiß wissen könne, was eigene Beobachtung und wahre Geschichte sey oder nicht, nach meinen Gedanken ein wahrer Vorzug des ersten Theils vor dem zweyten. Dieser vorgegebene Fehler hat mehr Mannichfaltigkeit in das Werk gebracht; und was kann dem Leser, der Belehrung und Erbauung suchet, daran gelegen seyn, ob sich z.E. meine Eitelkeit bey dem Frisieren oder bey dem Gespräche über ein Buch geäußert habe, wenn nur die Beobachtung selbst wahr, und die Anmerkungen, die ich darüber mache, richtig und lehrreich sind?[36]

Noch muß ich Ihnen und dem Publico Rechenschaft von demjenigen geben, was ich bey der Herausgabe dieses zweyten Theils gethan habe. Sie haben mir viel Freyheit gelassen, werthester Freund; mehr als ich vielleicht von irgend einem andern Schriftsteller angenommen hätte. Daß ich mich vor dem Mißbrauche derselben sorgfältig gehütet habe, das weiß ich: ob ich aber auch immer den besten Gebrauch davon gemacht habe, das ist eine Frage, deren Beantwortung ich Ihnen und Ihren Lesern überlasse.

Viele kleine historische Umstände, die mit keinen moralischen Beobachtungen zusammenhiengen, habe ich weggelassen. Nicht, als ob ich sie schlechterdings für unschicklich gehalten hätte. Ich habe sie nicht ungern, manche davon habe ich mit Vergnügen gelesen. Aber sie waren nicht für alle, nicht für die meisten Leser. Einige kamen zu oft wieder, und hätten bloß dadurch ermüden können. Andere setzten eine edle Einfalt der Sitten voraus, davon leider nur in wenigen gesiteten[37] Ländern noch merkliche Spuren zu finden sind. Noch andere waren in der That unbedeutend, und konnten schlechterdings Niemanden als den Verfasser und sein Haus interessiren. Nach dem Geschmacke der meisten Leser habe ich vielleicht noch zu viel Dinge von dieser Art stehen gelassen. Oft habe ich es bloß um des Zusammenhanges, oft um der größern Mannichfaltigkeit willen, oft aus Gewissenhaftigkeit gethan, weil ich etwas anderes an die Stelle davon hätte setzen müssen, und doch den Text in keinem Stücke, das nicht zur Sprachrichtigkeit gehöret, verändern wollte und durfte.

Es ist allerdings ein besonderes Vergnügen, einen Mann, dem man hochschätzet, und der sich durch mancherley Vorzüge und Verdienste von andern unterscheidet, den ganzen Tag über zu begleiten, und ein unbemerkter Zeuge aller, selbst der kleinsten und gleichgültigsten seiner Handlungen zu seyn. Wenn man aber dieses Vergnügen etliche male genossen[38] hat, so befriedigt man sich nachgehends gern damit, nur das Merkwürdigste von dem zu erfahren, was er an andern Tagen gedacht oder gethan hat, und denket sich die kleinen unbedeutende Geschäffte und Vorfallenheiten, die täglich wiederkommen, lieber selbst hinzu, als daß man sich dieselben so oft und so umständlich vorerzählen ließe. Wer bloß zu seinem eigenen Gebrauche, so wie Sie, mein Freund, es Ihrer ersten Absicht nach gethan haben, ein Tagebuch schreibt, kann zwar auch aus der Bemerkung solcher Kleinigkeiten Nutzen schöpfen. Er kann nach dem Verlaufe einer Woche oder eines Monates nachrechnen, wie viele Stunden er zu dieser oder jener Art von Beschäfftigungen, zur Arbeit und zur Ruhe, in der Einsamkeit und in Gesellschaften, mit zufriedenem oder bekümmertem Herzen, in eigenen oder fremden Angelegenheiten, in einer guten oder nicht guten Gemüthsfassung, in eigennützigen oder gemeinnützigen Absichten zugebracht, wie viel Zeit er ohne oder durch seine Schuld verloren, oder hingegen[39] durch Fleiß und Ordnung gewonnen habe, u.s.w. Aber die Umstände des Lesers sind zu sehr von den Umständen des Verfassers unterschieden, als daß er eben denselben Vortheil aus solchen gar zu sehr ins Kleine gehenden Nachrichten ziehen könnte. Ihm ist es schon genug, aus einigen wenigen Beyspielen zu lernen, wie man die Sache anzufangen, und worauf man dabey zu merken habe, wenn man solche moralische Rechnungen machen will.

Was endlich meine Anmerkungen betrifft, theuerster Freund, so müssen Sie dieselben als wohlgemeinte, aber vielleicht nicht immer wohlgerathene Beyträge, die größere Brauchbarkeit Ihres Buches zu befördern, betrachten. Ich habe diese Anmerkungen nicht für Sie, sondern für Ihre Leser gemacht. Mit Ihnen kann ich mich schriftlich über dasjenige unterreden, worüber wir vielleicht, unsrer Freundschaft und brüderlichen Liebe unbeschadet, verschiedener Meynung seyn mögen. – Habe ich, wie es wohl seyn[40] kann, Ihre Gedanken nicht allemal richtig genug gefaßt, oder bin ich in meinen Besorgnissen, daß gewisse Stellen nicht recht verstanden oder mißbraucht werden möchten, zu weit gegangen, so hat mich die Vorstellung der sehr zahlreichen Classe von Ihren Lesern, die mehr gute, fromme Empfindungen, als deutliche und richtige Einsichten zur Lesung Ihres Buches mitbringen, dazu verleitet. An diese Leser und Leserinnen habe ich vornehmlich gedacht; diesen habe ich alle Gelegenheit zum Mißverstande oder Mißbrauche abschneiden wollen. – Den polemischen Ton habe um so viel leichter vermieden, um so viel weniger er mir natürlich ist; und wenn ich ja zu widerlegen scheine, so habe ich meistens nicht so wohl den Satz, der im Texte steht, als vielmehr die falschen Schlüsse, die man daraus ziehen möchte, zu widerlegen gesucht.

Mehr darf ich Ihnen, mein werthester Freund, zu meiner Entschuldigung nicht sagen. Nein, ich würde Sie beleidigen, wenn ich Sie wegen des Gebrauchs[41] der mir von Ihnen gegebenen Freyheit um Verzeihung bäte.

Gott erhalte und stärke Sie, und lasse Sie immer mit dem besten Erfolge an der Beförderung der christlichen Rechtschaffenheit und der menschlichen Glückseligkeit arbeiten! Ich bin mit wahrer Hochachtung und Liebe


Ihr treuergebener Freund,

der Herausgeber.

Den 19. September.

1773.[42]

Quelle:
Lavater, Johann Kaspar: Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst, Leipzig 1773.
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