Zehntes Kapitel

[158] Gil Blas findet Geschmack am Theater, gibt sich den Freuden des Bühnenlebens hin und wird ihrer in Kürze müde


Die Gäste blieben beisammen, bis sie ins Theater gehen mußten. Ich folgte ihnen, und wieder sah ich das Schauspiel. Ich fand so viel Gefallen daran, daß ich beschloß, es mir täglich anzusehn. Dies tat ich wirklich, und unmerklich gewöhnte ich mich an die Schauspieler. Besonders entzückten mich die, die auf der Bühne am meisten schrien und gestikulierten, und ich stand mit diesem Geschmack nicht allein.[158]

Die Schönheit der Stücke fesselte mich nicht weniger als die Art, wie man sie darstellte. Manche rissen mich hin; vor allem aber liebte ich die, in denen die zwölf Pairs von Frankreich oder alle Kardinäle auftraten. Ich behielt lange Tiraden aus diesen unvergleichlichen Gedichten. Ich entsinne mich, daß ich einmal in zwei Tagen eine ganze Komödie auswendig lernte, deren Titel ›Die Blumenkönigin‹ lautete. Die Rose war Königin und hatte das Veilchen zur Vertrauten und den Jasmin zum Diener. Nichts fand ich sinnreicher als diese Werke, die mir dem Geist unsrer Nation viel Ehre zu machen schienen.

Ich begnügte mich nicht damit, mein Gedächtnis mit den schönsten Stellen dieser dramatischen Meisterwerke zu zieren, ich bemühte mich auch, meinen Geschmack zu vervollkommnen, und um das sicherer zu erreichen, lauschte ich eifrig auf alles, was die Komödianten sagten. Ich glaubte, sie verständen sich so auf Theaterstücke, wie die Juweliere sich auf Diamanten verstehn. Aber Pedro de Moyas Tragödie hatte großen Erfolg, obgleich sie das Gegenteil geweissagt hatten. Das jedoch vermochte mir ihr Urteil noch nicht verdächtig zu machen, und eher glaubte ich, das Publikum hätte keinen Geschmack; aber man versicherte mir, daß man meist die Stücke beklatschte, von denen die Komödianten eine schlechte Meinung hatten, und daß umgekehrt die, die sie beifällig aufnahmen, fast immer ausgezischt wurden. Man sagte mir, sie beurteilten die Werke in der Regel falsch, und man zitierte mir tausend Beispiele. Ich brauchte so viele Beweise, ehe ich mich eines Besseren belehren ließ.

Nie werde ich vergessen, wie man eines Tages eine neue Komödie zum ersten Mal aufführte. Die Schauspieler hatten sie kalt und langweilig gefunden; sie hatten sogar behauptet, man werde sie nicht zu Ende spielen. Aber der erste Akt fand starken Beifall; das wunderte sie. Sie spielten den zweiten: das Publikum nahm ihn noch besser auf. Meine Schauspieler[159] waren fassungslos. Zum Henker! sagte Rosimiro, diese Komödie packt! Schließlich spielten sie den dritten Akt, der noch mehr gefiel. Ich verstehe es nicht, sagte Ricardo; wir dachten, dies Stück würde nicht gefallen! Meine Herren, sagte da ein Schauspieler ganz naiv, es sind tausend geistreiche Züge darin, die uns nur nicht aufgefallen sind!

Ich sah die Schauspieler nun nicht mehr als ausgezeichnete Kunstrichter an und begann, ihre Leistungen treffender zu beurteilen. Sie verdienten vollauf, daß man sie lächerlich machte. Ich sah Schauspieler und Schauspielerinnen, die der Beifall verdorben hatte und die, da sie sich als Gegenstände der Bewunderung betrachteten, in dem Glauben lebten, sie erwiesen dem Publikum eine Gnade, wenn sie spielten. Ihre Fehler entsetzten mich; nur fand ich leider ihre Lebensweise recht nach meinem Geschmack, und ich stürzte mich in das liederliche Leben hinein. Wie hätte ich mich davor bewahren sollen! Alles, was ich bei ihnen hörte, war für die Jugend schädlich, und alles, was ich sah, arbeitete mit an meiner Verderbnis. Hätte ich auch nicht gewußt, was bei Casilda, Konstanze und andern vorging, so hätte Arsenias Haus allein genügt, mir den Kopf zu verwirren. Außer den alten Edelleuten kamen Elegants und Söhne großer Familien, denen Wucherer die Mittel gaben.

Florimunde, die in einem Nachbarhause wohnte, speiste täglich mittags und abends bei Arsenia. Die Dauer ihres Bundes befremdete viele. Man wunderte sich, daß zwei Kokotten sich so gut verstanden, und man meinte, früher oder später würden sie sich doch einmal wegen eines Kavaliers überwerfen; aber da kannte man diese vollkommenen Freundinnen wenig. Statt wie andre Frauen eifersüchtig aufeinander zu sein, lebten sie vereint. Sie teilten sich lieber das Geld der Männer, als daß sie sich um ihre Seufzer stritten.

Auch Laura nutzte nach dem Beispiel dieser beiden Verbündeten ihre guten Tage aus. Sie hatte mir nicht umsonst gesagt,[160] ich würde schöne Dinge erleben; ich spielte jedoch vorläufig nicht den Eifersüchtigen, denn ich hatte ja versprochen, darin den Geist der Gesellschaft anzunehmen. Ich heuchelte ein paar Tage lang und fragte nur nach den Namen der Männer, mit denen ich sie in vertraulicher Unterhaltung sah. Sie sagte stets, es sei ein Onkel oder ein Vetter. Wie viele Verwandte sie hatte! Ihre Familie mußte zahlreicher sein als die des Königs Priamus. Aber die Zofe beschränkte sich nicht einmal auf ihre Onkel und Vettern: sie angelte zuweilen auch noch nach Fremden und spielte bei der Alten die vornehme Witwe. Kurz, um dem Leser einen rechten Begriff zu geben: Laura war ebenso jung, ebenso hübsch und ebenso kokett wie ihre Herrin, die vor ihr nur das voraus hatte, daß sie das Publikum öffentlich unterhielt.

Drei Wochen schwamm ich mit dem Strom; ich kostete jede mögliche Wollust. Aber zugleich muß ich sagen, daß ich mitten in den Genüssen Gewissensbisse in mir spürte, die aus meiner Erziehung stammten und in meine Verzückung Bitterkeit mischten. Der Genuß triumphierte niemals ganz über diese Gewissensbisse; im Gegenteil, je ausschweifender ich wurde, um so mehr gewannen sie an Macht; und infolge meiner gesunden Natur begann mir die Unordnung des Komödiantendaseins Abscheu einzuflößen. Elender! sagte ich zu mir selber, erfüllst du so die Hoffnung deiner Familie? War es nicht genug, daß du sie täuschtest, indem du einen andern Beruf ergriffst als den des Erziehers? Soll deine dienende Stellung dich hindern, als anständiger Mensch zu leben? Ziemt es sich für dich, mit so verderbten Menschen zu hausen? Neid, Wut und Habgier herrschen bei den einen, und die andern haben die Scham verbannt. Diese überlassen sich der Trägheit und der Unmäßigkeit, und der Hochmut jener artet in Frechheit aus. Genug; ich will nicht länger bei den sieben Todsünden weilen.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 158-161.
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