Fünftes Kapitel

[317] In dem man Gil Blas von Freude, Ehre und Elend übermannt sieht


Bald merkte man am Hof, wie sehr der Minister mich liebte. Er gab mir öffentliche Beweise dafür, indem er mich mit seinem Portefeuille betraute, das er sonst selber trug, wenn er in den Rat ging. Diese Neuerung, die mir das Ansehn eines kleinen Günstlings gab, erregte vieler Leute Neid und wurde der Anlaß, daß man mir viele falsche Freundschaft bezeigte. Meine beiden Nachbarn, die Sekretäre, waren nicht die letzten,[317] die mir zu meiner demnächstigen Größe Glück wünschten, und sie luden mich ein, mit ihnen bei ihrer Witwe zu Nacht zu speisen, weniger um sich zu revanchieren, als um für die Folge meine Dienste zu gewinnen. Auf allen Seiten feierte man mich. Selbst der hochmütige Don Rodrigo wechselte den Ton und nannte mich nur noch den Herrn von Santillana. Er überhäufte mich mit Höflichkeiten, vor allem, wenn er glaubte, unser Gönner könnte es bemerken. Aber ich kann versichern, er hatte es mit keinem Dummen zu tun. Ich antwortete auf seine Verbindlichkeiten um so höflicher, je mehr ich ihn haßte: ein alter Höfling hätte es nicht besser tun können.

Auch wenn er zum König ging, begleitete ich den Herzog, meinen Herrn; und gewöhnlich ging er des Tags dreimal zu ihm. Morgens trat er zu Seiner Majestät ins Schlafzimmer, sobald sie erwacht war. Er kniete vor ihrem Bett, sprach mit ihr von den Dingen, die sie im Laufe des Tages zu tun hatte, und sagte ihr diejenigen vor, die sie zu sagen hatte. Dann zog er sich zurück. Gleich nach dem Mittagessen ging er wieder zu ihr, aber nicht, um mit ihr von Geschäften zu reden: diesmal erheiterte er sie nur. Er tischte ihr alle lustigen Abenteuer auf, die sich in Madrid ereigneten und über die er stets als erster durch eigens dafür besoldete Leute unterrichtet wurde. Und schließlich abends sah er den König zum dritten Male, erstattete ihm nach Belieben Bericht über das, was er an diesem Tage getan hatte, und erbat sich zum Schein die Befehle für den folgenden Tag. Wenn er beim König war, blieb ich im Vorzimmer, wo ich vornehme Herren sah, die, der Gunst ergeben, meine Unterhaltung suchten und sich beglückwünschten, wenn ich ihnen ein Ohr zu leihen geruhte. Wie hätte ich mich danach noch nicht für einen Mann von Bedeutung halten sollen? Bei Hofe haben viele mit weniger Grund diese Meinung von sich.

Eines Tages hatte ich großen Anlaß zur Eitelkeit. Der König,[318] dem der Herzog meinen Stil gerühmt hatte, war begierig, eine Probe davon zu sehn. Seine Exzellenz ließ mich das Register von Katalonien holen, führte mich vor den Monarchen und befahl mir, die erste Denkschrift, die ich bearbeitet hatte, vorzulesen. Wenn mich die Gegenwart des Fürsten zunächst verwirrte, so beruhigte die des Ministers mich bald, und der König hörte die Lektüre meiner Arbeit nicht ohne Vergnügen an. Er war so freundlich, mir seine Zufriedenheit auszusprechen und sogar seinem Minister zu befehlen, daß er für mich sorge. Das verminderte den Hochmut, den ich schon hegte, keineswegs; und die Unterhaltung, die ich ein paar Tage darauf mit dem Grafen von Lemos hatte, erfüllte mir vollends den Kopf mit ehrgeizigen Ideen.

Ich suchte diesen Edelmann im Auftrage seines Onkels bei dem Prinzen von Spanien auf und übergab ihm ein Beglaubigungsschreiben, in dem der Herzog ihm schrieb, er könne sich mir als einem Manne eröffnen, der volle Kenntnis von ihrem Plane habe und der zu ihrem gemeinsamen Boten ausersehen sei. Als der Graf das Schreiben gelesen hatte, führte er mich in ein Zimmer, in das wir uns einschlossen, und dort sagte der junge Edelmann: Da Ihr das Vertrauen des Herzogs von Lerma besitzt, so zweifle ich nicht, daß Ihr es verdient, und also will ich keinen Anstand nehmen, Euch auch das meine zu gewähren. Ihr sollt also wissen, daß alles vortrefflich geht. Der Prinz von Spanien zeichnet mich vor allen Edelleuten aus die ihm beigeordnet sind und sich bemühen, ihm zu gefallen. Ich habe heute morgen eine geheime Unterhaltung mit ihm gehabt, und er schien nur darüber bekümmert, daß er sich infolge des Geizes Seiner Majestät außerstande sieht, den Regungen seines großmütigen Herzens zu folgen, ja auch nur den sich für einen Prinzen geziemenden Aufwand zu machen. Ich habe nicht verfehlt, ihn zu beklagen; ich habe den Augenblick benutzt und ihm versprochen, ihm morgen beim Morgenempfang vorläufig tausend Pistolen[319] zu bringen, bis die größeren Summen kommen, die ihm dauernd zu liefern ich mich anheischig gemacht habe. Er war von meinem Versprechen entzückt; und ich bin sicher, mir sein Wohlwollen zu gewinnen, wenn ich ihm Wort halten kann. Geht, fügte er hinzu, und berichtet all das meinem Onkel und kommt abends wieder und sagt mir, was er davon denkt.

Ich verließ den Grafen von Lemos nach diesen Anweisungen und ging zum Herzog von Lerma, der auf meinen Bericht hin von Calderone tausend Pistolen holen ließ, die er mir abends anvertraute und die ich dem Grafen überbrachte, indem ich mir sagte: Hoho! jetzt sehe ich, durch welches unfehlbare Mittel der Minister bei seinem Unternehmen Erfolg haben will. Er hat, beim Teufel, recht! Und allem Anschein nach wird seine Freigebigkeit ihn nicht ruinieren. Ich errate leicht, aus welcher Kasse er diese schönen Pistolen nimmt; aber schließlich ist es doch nur gerecht, daß der Vater den Sohn unterhält. Als ich mich vom Grafen von Lemos trennte, sagte er leise zu mir: Lebt wohl, mein teurer Vertrauter! Der Prinz von Spanien liebt die Damen ein wenig, darüber müssen wir, Ihr und ich, uns bei erster Gelegenheit besprechen; ich sehe voraus, ich werde Eure Vermittlung bald nötig haben. Ich ging nach Hause, indem ich über diese keineswegs zweideutigen Worte nachsann, die mich mit Freude erfüllten. Zum Teufel! sagte ich, da stehe ich im Begriff, zum Merkur des Erben der Monarchie zu werden! Ich prüfte nicht, ob das gut sei oder schlecht, der hohe Rang des Galans betäubte meine Moral. Welch ein Ruhm für mich, wenn ich zum Vermittler der Vergnügungen eines Prinzen wurde! Gemach! Herr Gil Blas, wird man sagen; für Euch handelte es sich nur um den Posten des Vizevermittlers. Das gebe ich zu, aber im Grunde verleihen beide Posten gleich viel Ehre: nur der Profit ist verschieden.

Während ich mich dieser Aufträge entledigte und mir die[320] Gunst des ersten Ministers von Tag zu Tag immer mehr sicherte – wie glücklich wäre ich mit diesen schönsten Hoffnungen der Welt gewesen, wenn mich der Ehrgeiz vor dem Hunger bewahrt hätte! Mehr als zwei Monate hatte ich jetzt schon meine prachtvolle Wohnung nicht mehr und statt ihrer ein höchst bescheidenes möbliertes Zimmer. Obgleich mir das unangenehm war, faßte ich mich in Geduld, denn ich verließ es ja am frühen Morgen und kehrte erst spätabends zurück. Den ganzen Tag hindurch war ich auf der Bühne, das heißt beim Herzog. Dort spielte ich meine Herrenrolle. Aber wenn ich wieder in meiner Dachkammer war, verblaßte der Herr, und es blieb nur der arme Gil Blas, der kein Geld und, was schlimmer war, keine Möglichkeit hatte, welches zu verdienen. Abgesehn davon, daß ich zu stolz war, um irgend jemandem meine Not zu entdecken, kannte ich niemanden, der mir hätte helfen können als Joseph Navarro, und ihn hatte ich, seit ich bei Hofe war, zu sehr vernachlässigt, als daß ich mich an ihn zu wenden gewagt hätte. Ich hatte allmählich nacheinander meine sämtlichen Sachen verkaufen müssen. Ich besaß nur noch, was ich durchaus nicht entbehren konnte. Ich ging nicht mehr in die Herberge, weil ich kein Geld mehr hatte, meine Mahlzeiten zu bezahlen. Wie also lebte ich? Ich will es verraten. Jeden Morgen brachte man uns zum Frühstück ein kleines Brot und ein Gläschen Wein in unsre Bureaus: das war alles, was der Minister uns geben ließ. Während des ganzen Tages aß ich sonst nichts, und meistens ging ich ohne ein Nachtmahl zu Bett.

Das war die Lage eines Mannes, der bei Hofe glänzte, obgleich er dort mehr Mitleid als Neid hätte wecken müssen. Ich konnte mein Elend jedoch nicht mehr ertragen, und am Ende beschloß ich, es dem Herzog von Lerma zu entdecken, sobald sich Gelegenheit fand. Zum Glück bot sie sich im Eskorial, wohin ein paar Tage darauf der König und der Prinz von Spanien gingen.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 317-321.
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