Viertes Kapitel

[177] Was Aurora de Guzman tat, als sie in Salamanca war


Den andern Tag verbrachten Aurora und Elvira wiederum damit, daß sie sich unterhielten. Sie langweilten sich nicht miteinander; und als wir am dritten Tage aufbrachen, fiel ihnen der Abschied so schwer, als seien sie zwei Freundinnen, denen das Zusammenleben zu einer süßen Gewohnheit geworden war.

Schließlich kamen wir ohne Unfall in Salamanca an. Dort mieteten wir zunächst ein möbliertes Haus, und die Dame Ortiz nahm, wie es vereinbart war, den Namen Doña Ximena de Guzman an. Sie war zu lange Dueña gewesen, als daß sie nicht gut zu schauspielern verstanden hätte. Eines Morgens ging sie mit Aurora, einer Kammerfrau und einem Diener aus und begab sich in ein Logierhaus, wo Pacheco, wie wir erfahren hatten, gewöhnlich wohnte. Sie fragte, ob noch Zimmer zu vermieten seien. Man bejahte und zeigte ihr eine recht saubere Wohnung, die sie nahm. Sie gab sogar der Wirtin das Geld im voraus und sagte ihr, die Wohnung sei für einen ihrer Neffen, der aus Toledo komme, um in Salamanca zu studieren, und der noch eintreffen werde.

Dann kehrte die Dueña mit meiner Herrin zurück, und die schöne Aurora verkleidete sich unverzüglich als Kavalier. Sie barg ihr schwarzes Haar unter einer blonden Perücke, färbte sich auch die Brauen und zog sich so an, daß sie recht wohl für einen jungen Edelmann gelten konnte. Sie bewegte sich frei und leicht; und mit Ausnahme ihres Gesichts, das für einen Mann ein wenig zu schön war, verriet nichts ihre Vermummung. Das Mädchen, das ihr als Page dienen sollte, zog sich gleichfalls um, und wir befürchteten nicht, daß sie ihre Rolle schlecht spielen würde; abgesehn davon, daß sie nicht gerade sehr hübsch war, hatte sie im Ausdruck etwas[178] Dreistes, was gut zu ihrer Rolle paßte. Am Nachmittag schlug ich mit ihnen den Weg zur Bühne, das heißt zu dem Logierhaus, ein. Wir fuhren im Wagen hin und nahmen alle Sachen mit, die wir brauchten.

Die Wirtin, die Bernarda Ramirez hieß, empfing uns sehr höflich und führte uns in unsre Zimmer, wo wir ein Gespräch mit ihr begannen. Wir vereinbarten, welche Mahlzeiten sie uns zu liefern hätte und was wir ihr monatlich dafür zahlen würden. Dann fragten wir sie, ob sie viele Pensionäre hätte. Gegenwärtig nicht, antwortete sie; es würde mir nicht an ihnen fehlen, wenn ich jedermann aufnehmen wollte; aber ich will nur junge Edelleute. Ich erwarte heute abend einen, der von Madrid kommt, um seine Studien zu beenden, Don Luis Pacheco, einen Kavalier von höchstens zwanzig Jahren; wenn Ihr ihn nicht persönlich kennt, so habt Ihr vielleicht von ihm gehört. Nein, sagte Aurora; ich weiß zwar, daß er aus einer erlauchten Familie ist, aber nicht, was für ein Mensch er sein mag, und Ihr tätet mir einen Gefallen, mir Auskunft darüber zu geben, da ich mit ihm zusammen wohnen soll. Herr, sagte die Wirtin, indem sie den falschen Kavalier ansah, er ist eine glänzende Erscheinung; er ist ungefähr wie Ihr gebaut. Ach, wie gut Ihr zusammen passen werdet! Beim heiligen Jakob! ich werde mich rühmen können, die beiden artigsten Herren Spaniens bei mir zu haben. Dieser Don Luis, fuhr meine Herrin fort, hat zweifellos auch hierzulande Glück bei den Frauen? Oh, ich versichere Euch, erwiderte die Alte, er ist ein Herzensbrecher, auf mein Wort! Er braucht sich nur zu zeigen, um Eroberungen zu machen. Er hat unter andern eine Dame von Jugend und Schönheit bezaubert, die Isabella heißt. Sie ist die Tochter eines alten Rechtsgelehrten. Sie ist so in ihn vernarrt, daß sie sicher den Verstand darüber verlieren wird. Und sagt mir, meine Gute, fragte Aurora eifrig, ist er seinerseits sehr in sie verliebt? Er liebte sie, gab Bernarda Ramirez zur Antwort, vor seinem[179] Aufbruch nach Madrid, aber ich weiß nicht, ob er sie heute noch liebt; denn man ist bei ihm nie ganz sicher. Er läuft wie alle jungen Kavaliere oft von Frau zu Frau.

Die gute Witwe hatte noch nicht ausgesprochen, als wir im Hof einen Lärm vernahmen. Wir blickten zum Fenster hinaus und sahen zwei Männer, die von den Pferden stiegen. Es war Don Luis, der mit einem Kammerdiener von Madrid kam. Die Alte verließ uns, um ihn zu empfangen; und meine Herrin schickte sich, nicht ohne Erregung, an, die Rolle des Don Felix zu spielen. Bald sahen wir Don Luis, noch in Stiefeln, unser Zimmer betreten. Ich höre soeben, sagte er, indem er Aurora grüßte, daß ein junger toledanischer Edelmann im Hause wohnt; erlaubt er, daß ich ihm meine Freude über die Nachbarschaft bezeige? Als meine Herrin die Artigkeit erwiderte, schien mir Pacheco erstaunt, einen so reizenden Kavalier zu finden. Er konnte sich nicht enthalten, ihm zu sagen, daß er noch keinen so schönen und wohlgebildeten gesehen habe. Nach mancherlei höflichen Hin- und Widerreden zog Don Luis sich in die ihm bestimmten Zimmer zurück.

Während er sich dort die Stiefel ausziehen ließ und sich umkleidete, begegnete ein Page, der ihn suchte, um ihm einen Brief zu übergeben, zufällig auf der Treppe Aurora. Er hielt sie für Don Luis und sagte, indem er ihr das Briefchen überreichte: Herr Kavalier, obgleich ich den Herrn Pacheco nicht kenne, glaube ich, Euch nicht erst fragen zu sollen, ob Ihr es seid; nach dem Bild, das man mir von Euch entworfen hat, bin ich überzeugt, daß ich mich nicht täusche. Nein, mein Freund, entgegnete meine Herrin mit bewundernswerter Geistesgegenwart, Ihr täuscht Euch sicherlich nicht. Ihr entledigt Euch Eures Auftrags ausgezeichnet. Geht, ich werde meine Antwort senden. Der Page verschwand; Aurora schloß sich mit ihrem Mädchen und mir in ein Zimmer ein, erbrach den Brief und las uns vor: ›Ich höre soeben, Ihr seid in Salamanca. Mit welcher Freude vernehme ich diese Nachricht![180] Ich bin fast wahnsinnig geworden. Liebt Ihr Isabella noch? Eilt und sagt ihr, daß Ihr nicht verwandelt seid. Ich glaube, sie wird vor Freude sterben, wenn sie Euch treu findet.‹

Der Brief ist leidenschaftlich, sagte Aurora; er deutet auf eine verliebte Seele. Diese Dame ist eine Rivalin, die ich fürchten muß. Ich darf nichts versäumen, um Don Luis von ihr loszureißen und sogar zu hindern, daß er sie wiedersieht. Meine Herrin begann zu sinnen; und einen Augenblick darauf fuhr sie fort: Ich bürge euch, daß sie in weniger als vierundzwanzig Stunden entzweit sind. Als Pacheco sich ein wenig ausgeruht hatte, suchte er uns in unsern Zimmern auf und knüpfte bis zum Abendessen die Unterhaltung mit Aurora wieder an. Herr Kavalier, sagte er scherzend, ich glaube, Ehemänner und Liebhaber dürfen sich nicht über Eure Ankunft in Salamanca freuen; Ihr werdet ihnen Sorge machen. Ich wenigstens zittere um meine Eroberungen. Vernehmt, gab meine Herrin im gleichen Ton zurück, Eure Sorge ist nicht ohne Grund. Don Felix de Mendoce ist zu fürchten, ich warne Euch. Ich bin schon einmal in dieser Stadt gewesen; ich weiß, die Frauen hier sind nicht unempfänglich. Und welchen Beweis habt Ihr? unterbrach Don Luis lebhaft. Einen zwingenden Beweis, erwiderte Don Vincents Tochter. Vor einem Monat kam ich hier durch; ich blieb acht Tage, und ich will Euch im Vertrauen sagen, daß ich die Tochter eines alten Rechtsgelehrten entflammte.

Ich merkte Don Luis' Verwirrung. Darf man Euch, sagte er, ohne Indiskretion nach dem Namen der Dame fragen? Wie, ohne Indiskretion! rief der falsche Don Felix; weshalb sollte ich Euch ein Geheimnis daraus machen? Haltet Ihr mich für diskreter als andre Herren meines Alters? Tut mir die Ungerechtigkeit nicht an! Übrigens, unter uns, der Gegenstand verdient nicht so viel Schonung; es handelt sich um ein kleines Bürgermädchen. Ihr wißt, ein Mann von Stande gibt sich nicht im Ernst mit einer solchen Person ab, und er tut[181] ihr noch eine Ehre an, wenn er sie entehrt. Ich werde Euch also ohne Umschweife sagen, daß die Tochter dieses Gelehrten Isabella heißt. Und der Gelehrte, unterbrach Pacheco ungeduldig, hieße er Herr Murcia de la Llana? Ganz recht, erwiderte meine Herrin; gerade eben hat sie mir einen Brief geschickt; lest ihn und Ihr werdet sehn, daß mir die Dame wohlwill. Don Luis warf einen Blick auf das Briefchen; und als er die Handschrift erkannte, war er betroffen und sprachlos. Was sehe ich? fuhr Aurora mit der Miene des Staunens fort; Ihr wechselt die Farbe? Ich glaube, Gott verzeihe mir, Ihr nehmt Interesse an dieser Dame? Wie ich bereue, mit so viel Freimut zu Euch gesprochen zu haben!

Ich weiß Euch Dank dafür, sagte Don Luis mir einer Wallung, in der sich Zorn und Ärger mischten. Die Treulose! die Flatterhafte! Don Felix, was danke ich Euch nicht! Ihr entreißt mich einem Irrtum, den ich vielleicht noch lange bewahrt hätte. Ich glaubte, ich würde von Isabella geliebt – was sage ich, geliebt? Ich glaubte, ich würde von ihr angebetet! Ich hegte einige Achtung für dies Geschöpf, und nun sehe ich, daß sie nur eine Kokette ist, die meine Geringschätzung verdient. Ich lobe Euren Groll, sagte Aurora, indem nun sie Entrüstung heuchelte. Die Tochter eines Rechtsgelehrten hätte sich damit begnügen sollen, einen so liebenswürdigen Edelmann wie Euch zum Liebhaber zu haben. Ich kann ihre Untreue nicht entschuldigen; und statt es hinzunehmen, daß sie mir Euch zum Opfer bringt, will ich, um sie zu strafen, in Zukunft ihre Gunst verschmähen. Ich, erwiderte Pacheco, will sie zeit meines Lebens nicht wiedersehn; das ist die einzige Rache, die ich nehmen will. Ihr habt recht, rief der falsche Mendoce. Um ihr jedoch zu zeigen, wie sehr wir beide sie verachten, bin ich dafür, daß wir ihr jeder einen beschimpfenden Brief zusenden. Ich werde ihr diese beiden Briefe als Antwort auf den ihrigen überbringen lassen. Aber ehe wir dazu schreiten, geht mit Eurem Herzen zu Rate.[182] Prüfet, ob es völlig von dieser Ungetreuen gelöst ist und Ihr nicht etwa zu befürchten hättet, daß Ihr den Bruch eines Tages bereuen würdet. Nein, nein, unterbrach Don Luis, nie werde ich diese Schwäche haben, und ich bin bereit, der Undankbaren, um sie zu kränken, anzutun, was Ihr vorschlagt. Ich holte sogleich Papier und Tinte herbei, und beide machten sich daran, ein Schreiben zu verfassen, das auf die Tochter des Doktors Murcia de la Llana recht unangenehm wirken sollte. Pacheco vor allem konnte keine Worte finden, die ihm kräftig genug erschienen, seine Empfindungen auszudrücken, und fünf- oder sechsmal zerriß er einen begonnenen Brief, weil er ihm nicht hart genug erschien. Endlich aber war er mit einem zufrieden, und er hatte auch Grund, es zu sein. Er lautete, wie folgt: ›Geht in Euch, meine Königin, und gebt die Eitelkeit auf, zu glauben, daß ich Euch liebte. Es bedarf andrer Vorzüge als der Euren, mich zu fesseln. Ihr seid nicht einmal reizvoll genug, mir ein paar Augenblicke Vergnügen zu bereiten. Ihr taugt nur dazu, den geringsten Schülern der Universität zum Scherz zu dienen.‹ Er schrieb also diesen anmutigen Brief; und als Aurora auch den ihren fertig hatte, der nicht weniger verletzend war, versiegelte sie beide, legte eine Hülle darum, gab mir das Paket und sagte: Also, Gil Blas, sorge dafür, daß Isabella dies noch heute abend erhält. Du verstehst? fügte sie hinzu, indem sie mir mit den Augen ein Zeichen gab, das ich recht wohl verstand. Ja, gnädiger Herr, gab ich zurück, es wird geschehn, wie Ihr es wünscht.

Ich ging hinaus, und auf der Straße sagte ich zu mir: Nun also, Herr Gil Blas, man stellt Euren Geist auf die Probe; Ihr spielt in dieser Komödie den Kammerdiener! Wohlan, mein Freund, zeigt, daß Ihr Geist genug habt für eine Rolle, die viel Geist verlangt. Der Herr Don Felix rechnet, wie Ihr seht, auf Euer Verständnis. Mit Unrecht? Nein, ich weiß, was er erwartet. Ich soll nur Don Luis' Brief überreichen, das war der Sinn seines Winks; nichts könnte klarer sein. Überzeugt,[183] daß ich mich nicht täuschte, zögerte ich keinen Augenblick, das Paket zu öffnen. Ich zog Pachecos Brief heraus und trug ihn zum Doktor Murcia, dessen Wohnung ich bald erkundet hatte. An der Tür des Hauses traf ich den kleinen Pagen, der im Logierhaus gewesen war. Bruder, sagte ich zu ihm, seid Ihr nicht der Diener der Tochter des Herrn Doktor Murcia? Er bejahte, und man sah ihm an, daß er gewohnt war, galante Briefe zu überbringen und entgegenzunehmen. Der kleine Page fragte mich, von wem ich käme; und als ich ihm sagte, von Don Luis Pacheco, erwiderte er: Dann folgt mir; ich habe Befehl, Euch einzulassen; Isabella will mit Euch reden. Ich ließ mich in ein Zimmer führen, und bald sah ich die Señora erscheinen. Ich war betroffen über die Schönheit ihres Gesichts: nie habe ich zartere Züge gesehn. Sie war zierlich und kindlich; aber das hinderte nicht, daß sie seit mindestens dreißig guten Jahren ohne Gängelband einherging. Mein Freund, sagte sie mit lachender Miene, Ihr gehört zu Don Luis Pacheco? Ich versetzte, ich wäre seit drei Wochen sein Kammerdiener. Dann reichte ich ihr das verhängnisvolle Briefchen, das ich brachte. Sie mußte es zwei- oder dreimal lesen: es schien, als traute sie ihren Augen nicht mehr. Wirklich war sie auf nichts so wenig gefaßt wie auf eine solche Antwort. Sie hob ihre Blicke zum Himmel, biß sich auf die Lippen, und einige Sekunden lang zeugte ihr Gesicht von den Schmerzen des Herzens. Dann richtete sie plötzlich das Wort an mich: Mein Freund, sagte sie, ist Don Luis seit unsrer Trennung wahnsinnig geworden? Ich verstehe sein Vorgehen nicht. Sagt mir, wenn Ihr es wißt, weshalb er mir so artig schreibt. Welcher Dämon kann ihn treiben? Wenn er mit mir brechen will, könnte er es nicht tun, auch ohne mich durch so brutale Briefe zu beschimpfen?

Edles Fräulein, sagte ich mit gespielter Aufrichtigkeit, mein Herr tut sicherlich unrecht: aber er war gewissermaßen dazu gezwungen. Wenn Ihr mir versprecht, das Geheimnis zu[184] bewahren, so will ich Euch das Rätsel lösen. Ich verspreche es Euch, unterbrach sie mich eifrig: fürchtet nicht, daß ich Euch bloßstelle; sprecht Euch rückhaltlos aus. Nun, sagte ich, hier habt Ihr die Lösung in zwei Worten. Einen Augenblick nach Empfang Eures Briefes kam in einen Mantel dicht gehüllt eine Dame in unser Logierhaus. Sie fragte nach dem Herrn Pacheco, sprach eine Weile unter vier Augen mit ihm, und gegen Ende des Gespräches hörte ich sie sagen: Ihr schwört mir, daß Ihr sie niemals wiederseht; doch nicht genug, Ihr müßt ihr zu meiner Genugtuung noch zur Stunde einen Brief schreiben, den ich Euch diktieren werde; das verlange ich von Euch. Don Luis tat, was sie wünschte; dann reichte er mir das Papier und sagte: Erkundige dich, wo der Doktor Murcia de la Llana wohnt, und übergebe dieses Briefchen seiner Tochter Isabella.

Ihr seht, edles Fräulein, fuhr ich fort, dieser unhöfliche Brief ist das Werk einer Rivalin; also ist mein Herr so schuldig nicht. O Himmel! rief sie aus, er ist es noch mehr, als ich glaubte. Seine Untreue verletzt mich tiefer als die harten Worte, die seine Hand niederschrieb. O der Ungetreue! er hat sich mit einer andern verbunden..! Aber, fuhr sie mit hochmütig werdender Miene fort, er überlasse sich ohne Zwang der neuen Liebe; ich will sie nicht durchkreuzen. Sagt ihm, ich bitte Euch, er hätte mich nicht zu beschimpfen brauchen, damit ich meiner Rivalin das Feld überließe, und ich verachtete einen flatterhaften Liebhaber viel zu sehr, als daß ich im geringsten Lust hätte, ihn zurückzurufen. Damit verabschiedete sie mich und zog sich in großem Zorn gegen Don Luis zurück.

Ich war sehr mit mir zufrieden, als ich das Haus des Rechtsgelehrten verließ. Ich kehrte in unser Logierhaus zurück, wo ich die Herren Mendoce und Pacheco beim Nachtmahl antraf; sie unterhielten sich, als kennten sie sich seit langem. Aurora sah an meiner zufriedenen Miene, daß ich mich meines[185] Auftrags nicht schlecht entledigt hatte. Da bist du ja zurück, Gil Blas, sagte sie: erstatte Bericht von deiner Botschaft. Es galt, von neuem Geist zu zeigen. Ich sagte, ich hätte das Paket persönlich übergeben und Isabella sei, als sie die Briefe gelesen habe, statt die Fassung zu verlieren, in Lachen ausgebrochen. Meiner Treu, habe sie gerufen, die jungen Herren schreiben einen hübschen Stil; ich muß gestehn, nicht alle schreiben so liebenswürdig. Das nenne ich: sich gut aus der Verlegenheit ziehen, rief meine Herrin; diese Kokette ist wahrlich in ihrer Kunst vollendet. Ich, sagte Don Luis, erkenne Isabella nicht wieder. Sie muß sich in meiner Abwesenheit sehr geändert haben. Auch ich, erwiderte Aurora, hätte sie ganz anders beurteilt. Aber gebt zu, es gibt Frauen, die jede Gestalt anzunehmen verstehn. Ich habe einmal eine von ihnen geliebt und mich lange von ihr täuschen lassen. Gil Blas kanns Euch sagen, sie sah so sittsam aus, daß alle Welt sich irreführen ließ. Freilich, sagte ich, indem ich mich in das Gespräch einmischte, es war ein Lärvchen, das die Schlauesten gefangen hätte; ich wäre selber darauf hineingefallen.

Pacheco und der falsche Mendoce brachen in lautes Lachen aus; und statt mir meine Freiheit übel zu vermerken, richteten sie oft das Wort an mich, um sich an meinen Antworten zu freuen. Wir unterhielten uns noch weiter über die Frauen, die die Kunst besitzen, eine Maske zu tragen; und das Ergebnis war, daß Isabella als überführt galt, eine Erzkokette zu sein. Don Luis beteuerte von neuem, daß er sie niemals wiedersehen wollte; und Don Felix schwur nach seinem Beispiel, er werde sie ewig verachten. Im Gefolge dieser Beteuerungen schlossen sie Freundschaft und versprachen sich, keine Geheimnisse mehr voreinander zu haben. Als sie sich schließlich trennten, um zur Ruhe zu gehn, folgte ich Aurora in ihr Zimmer, wo ich ihr von meiner Unterredung mit der Tochter des Doktors genau Bericht erstattete; ich vergaß nicht den geringsten Umstand; ich sagte sogar, um[186] meiner Herrin, die von meinem Bericht entzückt war, zu schmeicheln, mehr als ich wußte. Fast hätte sie mich umarmt. Mein lieber Gil Blas, sagte sie, ich bin entzückt von deinem Geist. Mut, mein Freund, wir haben eine Rivalin beseitigt, die uns gefährlich werden konnte. Der Anfang ist nicht übel. Aber da Liebende seltsamen Rückfällen ausgesetzt sind, so bin ich dafür, den Lauf der Dinge zu beschleunigen und morgen schon Aurora de Guzman ins Spiel zu bringen. Ich billigte diesen Gedanken und zog mich in meine Kammer zurück, indem ich den Herrn Don Felix mit seinem Pagen allein ließ.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 177-187.
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