Sechstes Kapitel

[94] Welchen Weg er einschlug, als er Valladolid verließ, und wer sich ihm unterwegs anschloß


Ich schritt schnell aus und blickte immer von Zeit zu Zeit zurück, um zu sehn, ob dieser furchtbare Biskayer nicht etwa meinen Schritten folgte; meine Phantasie war so von diesem Menschen erfüllt, daß ich ihn in jedem Strauch und jedem Baum sah. Als ich aber eine gute Wegstunde hinter mir hatte, beruhigte ich mich, und ich setzte meinen Marsch nach Madrid, denn dorthin gedachte ich zu gehn, gemächlicher fort. Ich gab den Aufenthalt in Valladolid ohne Schmerzen drein; mein ganzes Bedauern galt der Trennung von Fabricio, meinem[94] teuren Pylades, von dem ich nicht einmal Abschied genommen hatte. Es tat mir keineswegs leid, daß ich auf die Medizin verzichtet hatte; im Gegenteil, ich bat Gott um Vergebung, daß ich sie ausgeübt hatte. Das Geld freilich, das ich in der Tasche trug, zählte ich mit Vergnügen, obgleich es der Lohn meiner Morde war. Ich glich den Frauen, die ihr leichtfertiges Leben aufgeben, aber den Verdienst ihrer Leichtfertigkeit in Ruhe behalten. Ich hatte etwa den Wert von fünf Dukaten in Realen: das war mein ganzes Hab und Gut. Damit gedachte ich bis Madrid zu kommen, wo ich sicher hoffte, eine gute Stellung zu finden. Ich sehnte mich leidenschaftlich nach dieser prachtvollen Stadt, die man mir als den Inbegriff aller Wunder der Welt gepriesen hatte.

Während ich mich auf alles besann, was ich von ihr gehört hatte, vernahm ich die Stimme eines Menschen, der hinter mir herging und aus vollem Halse sang. Auf dem Rücken hatte er einen ledernen Sack, am Halse hing ihm eine Gitarre, und an der Seite trug er einen langen Degen. Er schritt so wacker aus, daß er mich bald einholte. Es war einer der beiden Barbiergehilfen, mit denen ich um des Ringes willen im Gefängnis gewesen war. Trotz der andern Kleidung erkannten wir einander gleich, und wir waren sehr erstaunt, uns unversehens auf der gleichen Landstraße zu treffen. Wie ich ihm versicherte, ich sei entzückt, ihn zum Reisegefährten zu haben, so schien auch er sich über das Wiedersehn recht zu freuen. Ich erzählte ihm, weshalb ich Valladolid verlassen hätte, und er sagte mir, um mein Vertrauen zu erwecken, er habe mit seinem Meister Streit gehabt, und so hätten sie sich auf ewig Lebewohl gesagt. Wenn ich noch länger in Valladolid hätte bleiben wollen, fügte er hinzu, so hätte ich zehn Stellen statt einer gefunden; und, Eitelkeit beiseite, ich glaube, kein Barbier in Spanien versteht besser als ich, mit dem Strich und dagegen zu rasieren und einen Schnurrbart in Wickel zu legen. Aber ich konnte dem Verlangen, in meine Heimat zurückzukehren,[95] nicht länger widerstehn. Zehn ganze Jahre bin ich schon fort. Ich will ein wenig Heimatluft atmen und nachsehn, wie es meinen Eltern geht. Übermorgen werde ich bei ihnen sein, denn der Ort, wo sie wohnen, Olmedo, ist ein großes Dorf diesseits von Segovia.

Ich beschloß, den Barbier bis in sein Dorf zu begleiten und nach Segovia zu gehn, um mir eine Fahrgelegenheit nach Madrid zu suchen. Der junge Mann war heiteren Sinnes und hatte ein angenehmes Wesen. Nachdem wir uns eine Stunde lang unterhalten hatten, fragte er mich, ob ich Hunger hätte. Ich erwiderte ihm, das werde er im ersten Gasthaus merken. Inzwischen, sagte er, könnten wir eine Pause machen; ich habe ein Frühstück in meinem Sack. Wenn ich reise, nehme ich immer Vorrat mit. Ich belade mich nicht mit Kleidern, Wäsche und anderm unnötigen Gepäck: ich will nichts Überflüssiges. Ich tue nur Mundvorrat zu meinen Rasiermessern und meinem Seifennapf in den Sack; weiter brauche ich nichts. Ich lobte seine Klugheit und nahm seinen Vorschlag mit Freuden an. Wir schwenkten ein wenig von der Straße ab, um uns ins Gras zu setzen. Da breitete mein Barbiergehilfe seine Nahrungsmittel aus; sie bestanden aus fünf oder sechs Zwiebeln, einigen Stücken Brot und Käse; aber das Beste, was er aus seinem Sack zog, war ein kleiner Schlauch voll eines, wie er sagte, delikaten Weins. Obgleich die Gerichte nicht gerade schmackhaft waren, erlaubte der Hunger uns nicht, sie schlecht zu finden. Wir leerten auch den Schlauch, der etwa zwei Liter Wein enthielt; freilich, ihn zu loben, das hätte man recht wohl unterlassen können. Dann standen wir auf und machten uns in großer Heiterkeit von neuem auf den Marsch.

Der Barbiergehilfe, der, wie er mir sagte, Diego de la Fuente hieß, erzählte mir mancherlei Abenteuer, aber sie scheinen mir des Wiedererzählens so wenig wert, daß ich sie mit Schweigen übergehe. Ich freilich mußte sie anhören, und sie[96] waren lang; sie begleiteten uns bis nach Ponte de Duero. In diesem Ort verbrachten wir den Rest des Tages. Wir ließen uns in einem Gasthof eine Kohlsuppe bereiten und einen Hasen, den wir zuvor sorgfältig auf seine Echtheit prüften, auf den Bratspieß stecken. Am folgenden Morgen füllten wir unsern Schlauch mit einem recht guten Wein, den Sack mit etwas Brot und der übriggebliebenen Hälfte des Hasen, und dann setzten wir bei Tagesanbruch unsre Reise fort.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 94-97.
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