Viertes Kapitel

[83] Gil Blas übt die Heilkunde mit ebensoviel Erfolg wie Befähigung weiter aus. Das Abenteuer des wiedergefundenen Ringes


Ich traf kaum zu Hause ein, so kam auch der Doktor Sangrado. Ich zählte ihm von den zwölf Realen, die ich für meine Verordnungen erhalten hatte, acht in die Hand. Acht Reale, sagte er, das ist wenig für zwei Besuche; aber man muß alles nehmen. Daher nahm er sie auch fast alle. Mir gab er zwei: Nimm, Gil Blas, sagte er, damit kannst du den Grund zu einem Vermögen legen. Ich will einen Vertrag mit dir schließen: ich gebe dir ein Viertel der Summe, die du nach Hause bringst. So wirst du bald reich sein, mein Freund; denn es wird, so Gott will, in diesem Jahr viel Krankheiten geben.

Ich konnte mit dieser Teilung zufrieden sein, denn da ich stets ein Viertel meiner Einnahme zu behalten gedachte und noch ein Viertel des übrigen erhielt, so fiel mir, wenn die Arithmetik verläßlich ist, fast die Hälfte des Ganzen zu. Das flößte mir neuen Eifer für die Medizin ein. Am Tage darauf zog ich gleich nach dem Mittagbrot mein Assistentenkostüm an und machte mich wiederum auf. Ich besuchte mehrere Kranke und behandelte alle, obgleich sie verschiedene Leiden hatten, auf die gleiche Art. Bis dahin war alles ohne Lärm abgegangen. Schließlich aber besuchte ich einen dicken Kantor, der das Fieber hatte. Sobald er mich von heißem Wasser[83] sprechen hörte, zeigte er sich so widerspenstig, daß er zu fluchen begann. Er überhäufte mich mit tausend Schmähungen und drohte mir sogar, mich zum Fenster hinauszustürzen, wenn ich nicht augenblicklich ginge. Ich ließ mir das nicht zweimal sagen, und da ich keine Kranken mehr besuchen wollte, ging ich in die Schenke. Fabricio war schon da. Da wir in Trinklaune waren, so begannen wir ein Gelage, und als wir nach Hause gingen, waren wir in einer schönen Verfassung, das heißt betrunken. Der Herr Sangrado merkte nichts von meinem Rausch, weil ich ihm die Szene bei dem Kantor so dramatisch schilderte, daß er meine Lebhaftigkeit für eine Wirkung der Erregung hielt. Übrigens geriet er selber in hellen Zorn. Sosehr er indessen von dem in Anspruch genommen war, was ich ihm erzählte, bemerkte er doch, daß ich an diesem Abend mehr Wasser trank als gewöhnlich.

Wirklich hatte der Wein mich sehr durstig gemacht. Jeder andre wäre bei den Wassermengen, die ich vertilgte, stutzig geworden; aber er glaubte allen Ernstes, ich begönne Geschmack an diesem Getränk zu finden. Wie ich sehe, Gil Blas, sagte er lächelnd, schwindet deine Abneigung gegen das Wasser. Gottlob! du trinkst es schon wie Nektar. Herr, gab ich zur Antwort, alles hat seine Zeit; in diesem Augenblick gäbe ich gern ein Faß Wein für einen Liter Wasser hin. Diese Antwort entzückte den Arzt, der die schöne Gelegenheit, die Vortrefflichkeit des Wassers zu preisen, nicht vorbeigehen ließ. Er hielt ihm eine neue Lobrede, während deren ich mehr als einmal fast in Lachen ausgebrochen wäre. Ich bewahrte jedoch meinen Ernst; ja ich ging auf seine Ideen ein. Ich tadelte den Weingenuß und beklagte es, daß die Menschen zu ihrem Unglück an einem so widerlichen Getränk Geschmack gefunden hätten. Und da ich noch recht durstig war, so füllte ich einen großen Becher mit Wasser und sagte, nachdem ich in langen Zügen getrunken hatte: Wohlan,[84] Herr, füllen wir uns mit dieser wohltätigen Flüssigkeit! Er zollte diesen Worten Beifall und ermahnte mich eine ganze Stunde lang, stets nur Wasser zu trinken. Um mich daran zu gewöhnen, versprach ich ihm, jeden Abend ein reichliches Maß zu trinken; und um mein Versprechen leichter halten zu können, ging ich mit dem Entschluß zu Bett, jeden Tag die Schenke aufzusuchen.

Das Ärgernis, das ich bei dem Kantor erlebt hatte, hinderte mich nicht, meinen Beruf fortzusetzen und gleich am Tage darauf wieder Aderlässe und heißes Wasser zu verordnen. Als ich aus einem Hause trat, in dem ich einen Dichter, der an Wahnsinn litt, besucht hatte, traf ich in der Straße auf eine alte Frau, die mich ansprach und fragte, ob ich ein Arzt sei. Ich antwortete: ja. Dann, Herr Doktor, fuhr sie fort, flehe ich Euch demütigst an, kommt mit mir; meine Nichte ist seit gestern krank, und ich weiß nicht, was ihr fehlt. Ich folgte der Alten in ein Haus, und sie führte mich in ein ziemlich sauberes Zimmer, wo ich im Bett ein Mädchen liegen sah. Ich trat heran, um sie zu untersuchen. Gleich fielen mir ihre Züge auf, und als ich sie ein paar Sekunden betrachtet hatte, erkannte ich, so daß ich nicht mehr zweifeln konnte, die Abenteurerin, die Camillas Rolle so gut gespielt hatte. Sie schien sich meiner nicht zu entsinnen, sei es, daß sie durch ihr Leiden abgestumpft war, sei es, daß mein ärztliches Gewand mich ihr unkenntlich machte. Ich nahm ihren Arm in die Hand, um nach dem Puls zu fühlen, und ich sah meinen Ring an ihrem Finger. Ich spürte beim Anblick eines Gegenstandes, den ich mir anzueignen berechtigt gewesen wäre, furchtbare Aufregung, und ich hatte große Lust, ihn mir zurückzunehmen; aber in der Erwägung, daß die Frauen Geschrei erheben würden und daß Don Raphael oder irgendein andrer Verteidiger des schönen Geschlechts auf ihre Rufe herbeieilen könnte, hütete ich mich, der Versuchung nachzugeben. Ich überlegte mir, daß es besser sei, wenn ich schwiege[85] und mich darüber mit Fabricio beriete. Unterdessen drängte die Alte mich, ihr zu sagen, von welchem Leiden ihre Nichte befallen wäre. Ich war nicht so dumm, einzugestehn, daß ich keine Ahnung davon hätte; im Gegenteil, ich spielte den Wissenden, kopierte meinen Herrn und sagte ernsthaft, das Leiden komme daher, daß die Kranke nicht transpiriere: man müsse sie also eiligst zur Ader lassen, denn der Aderlaß sei der natürliche Ersatz der Transpiration; und gleichfalls verordnete ich, um die Sache nach unsren Regeln zu machen, heißes Wasser.

Ich kürzte meinen Besuch, sosehr ich konnte, ab und lief zu des Bartscherers Sohn, den ich traf, als er ausging, um für seinen Herrn einen Auftrag auszurichten. Ich erzählte ihm mein neues Abenteuer und fragte ihn, ob er es für geraten halte, Camilla verhaften zu lassen. Ach nein, rief er; du wirst dich hüten! Das wäre nicht gerade das Mittel, um wieder in den Besitz deines Ringes zu gelangen. Denke an das Gefängnis von Astorga; dein Pferd, dein Geld, sogar deinen Anzug – haben sie nicht etwa alles behalten? Wir müssen unsern Erfindungsgeist ausnutzen, um deinen Diamanten zurückzubekommen. Ich nehme es auf mich, eine List zu finden. Ich werde unterwegs nachgrübeln, denn ich habe einem Lieferanten von meinem Herrn zwei Worte zu sagen. Erwarte mich geduldig in der Schenke; ich werde in kurzem zu dir stoßen.

Aber ich hatte mehr als drei Stunden zu warten, bis er kam. Ich erkannte ihn nicht einmal gleich. Abgesehn davon, daß er die Kleidung gewechselt und sich das Haar geflochten hatte, bedeckte ihm ein falscher Schnurrbart das halbe Gesicht. Er trug einen großen Degen, dessen Scheide mindestens drei Fuß lang war, und er schritt an der Spitze von fünf Leuten einher, die, wie er, mit finster entschlossener Miene dichte Schnurrbärte und lange Rapiere trugen. Meinen Gruß dem Herrn Gil Blas, sprach er mich an, er sieht in[86] mir einen neugebackenen Alguasil und in den wackeren Leuten, die mich begleiten, Häscher derselben Brüderschaft. Er braucht uns nur zu der Frau zu geleiten, die ihm den Diamanten gestohlen hat, und wir werden ihn ihm zurückgeben, auf mein Wort. Da umarmte ich Fabricio, der mir auf diese Weise die Kriegslist bekannt gab, die er für mich anwenden wollte, und ich sagte ihm, daß ich seinem Einfall allen Beifall spendete. Auch die falschen Schergen begrüßte ich. Es waren drei mit ihm befreundete Diener und zwei Barbiergehilfen, die er für diese Rolle gewonnen hatte. Ich befahl, Wein aufzutragen und die Mannschaft zu tränken, und mit Einbruch der Nacht zogen wir alle zusammen zu Camilla. Auf unser Klopfen öffnete die Alte, und da sie meine Begleiter für Häscher der Justiz hielt, die nicht ohne Ursache in dies Haus eindrangen, so war sie schreckensstarr. Beruhigt Euch, meine gute Mutter, sagte Fabricio, wir kommen nur wegen einer kleinen Affäre, die schnell beendet sein wird; denn wir lieben die Eile. Wir rückten vor und drangen, von der Alten beim Licht einer Kerze, die sie in einem silbernen Leuchter trug, geführt, in das Zimmer der Kranken ein. Ich nahm ihr den Leuchter ab und trat an das Bett; und indem ich Camilla meine Züge zeigte, sagte ich: Verräterin, erkennt den allzu leichtgläubigen Gil Blas, den Ihr betrogen habt! Ha! Schurkin, endlich treffe ich Euch, nachdem ich Euch lange gesucht habe! Der Korregidor hat meine Klage entgegengenommen und diesen Alguasil beauftragt, Euch zu verhaften. Auf, Herr Offizier! tut, was Eures Amtes ist. Ihr braucht mich, sagte er mit erhobener Stimme, nicht zu ermahnen, daß ich meine Pflicht erfülle. Ich kenne diese leichte Dame da; sie steht schon seit zehn Jahren mit roten Lettern auf meiner Tafel. Steht auf, Prinzessin, sagte er, zieht Euch schnell an; ich will Euch als Kavalier dienen und Euch in das Gefängnis der Stadt geleiten, wenn es Euch genehm ist.

Bei diesen Worten setzte Camilla sich, so krank sie war, da[87] sich zwei Häscher mit großen Schnurrbärten anschickten, sie aus dem Bett zu ziehn, von selber auf, schlug flehend die Hände zusammen, sah mich mit Blicken an, in denen die Angst geschrieben stand, und sagte: Herr Gil Blas, habt Erbarmen mit mir; ich schwöre Euch bei der keuschen Mutter, der Ihr das Licht verdankt, ich bin mehr unglücklich als schuldig; Ihr werdet es mir glauben, wenn Ihr meine Geschichte anhören wollt. Nein, Fräulein Camilla, rief ich, nein, ich will Euch nicht hören; ich weiß nur zu gut, wie vortrefflich Ihr Romane erfindet. Nun, erwiderte sie, wenn Ihr mir nicht gestattet, mich zu rechtfertigen, so will ich Euch Euren Diamanten wiedergeben, aber richtet mich nicht zugrunde! Und sie zog sich den Ring vom Finger und reichte ihn mir. Aber ich entgegnete, der Diamant genüge mir nicht, ich wolle Ersatz für die tausend Dukaten, die man mir in dem Logierhaus gestohlen habe. Ach! rief sie, Eure Dukaten verlangt nicht von mir. Der Verräter Don Raphael, den ich seither nicht wiedergesehen habe, nahm sie noch in der Nacht mit fort. He, kleines Mäuschen! sagte Fabricio da, wollt Ihr etwa sagen, daß Ihr nicht auch Euer Stück von der Torte hattet? So billigen Kaufs kommt Ihr nicht los! Daß Ihr Mitschuldige des Don Raphael wart, ist ein hinreichender Grund für uns, Rechenschaft über Euer vergangenes Leben von Euch zu fordern. Ihr müßt gar manches auf dem Gewissen haben. Kommt, bitte, mit ins Gefängnis und legt Generalbeichte ab! Ich will, fuhr er fort, auch die gute Alte hier mitnehmen; ich denke, sie wird eine Menge seltsamer Geschichten kennen, die der Herr Korregidor nicht ungern hören wird.

Die beiden Frauen setzten alles ins Werk, um uns zu rühren. Sie erfüllten das Zimmer mit Schreien, Klagen und Jammern. Während die Alte sich bald vor dem Alguasil, bald vor den Häschern auf die Kniee warf, bat Camilla mich auf die rührendste Art, sie aus den Händen der Justiz zu erretten. Das Schauspiel war des Sehens wert. Ich tat, als ließe ich mich[88] erweichen. Herr Offizier, sagte ich zu Fabricio, da ich meinen Diamanten habe, so tröste ich mich über den Rest. Ich will nicht den Tod des Sünders. Pfui! rief er, Ihr habt Mitgefühl! Ich habe meinen Auftrag auszuführen. Ich habe ausdrücklich Befehl, diese Täubchen festzunehmen; der Herr Korregidor will ein Exempel statuieren. Ach, ich bitte Euch, sagte ich, nehmt einige Rücksicht auf meinen Wunsch; weicht ein wenig von Eurer Pflicht ab, da diese Damen Euch ein Geschenk dafür bieten. Ah! erwiderte er, das ist etwas andres; das nennt man eine rhetorische Wendung an der richtigen Stelle. Laßt sehn, was haben sie mir zu bieten? Ich habe ein Perlenhalsband, sagte Camilla, und Ohrgehänge von beträchtlichem Wert. Ja, aber, unterbrach er sie schroff, wenn das von den Philippinen kommt, will ich es nicht. Ihr könnt sie in Ruhe nehmen, erwiderte sie, ich garantiere für ihre Echtheit. Zugleich ließ sie sich von der Alten eine kleine Truhe bringen, entnahm ihr das Halsband und die Ohrgehänge und legte sie dem Herrn Alguasil in die Hände. Diese Edelsteine, sagte er, nachdem er sie aufmerksam betrachtet hatte, scheinen mir gediegen; und wenn man den silbernen Leuchter hinzunimmt, den der Herr Gil Blas in der Hand hat, so bürge ich nicht mehr für meine Treue. Ich denke, sagte ich zu Camilla, Ihr werdet einen für Euch so günstigen Vergleich nicht um einer solchen Kleinigkeit willen scheitern lassen, und damit nahm ich die Kerze aus dem Leuchter und gab sie der Alten zurück. Fabricio nahm den Leuchter, und da er im Zimmer nichts mehr sah, was sich leicht wegtragen ließ, so sagte er: Lebt wohl, meine Damen, seid unbesorgt; ich werde mit dem Herrn Korregidor reden und euch weißer waschen als Schnee.

Quelle:
Le Sage, Alain René: Die Geschichte des Gil Blas von Santillana. Wiesbaden 1957, S. 83-89.
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