Achtzehntes Kapitel

[200] Ljubow Onissimowna hielt inne – sie war wohl mit ihrer Erzählung zu Ende – und holte aus der Tasche das Fläschchen und sog daran. Ich aber fragte sie:

»Wer hat denn den berühmten Toupetkünstler hier beerdigt?«

»Der Gouverneur, mein Liebling, der Gouverneur war selbst bei der Beerdigung dabei. Wie denn sonst? Er war doch Offizier, und der Geistliche und der Diakon nannten ihn bei der Totenmesse ›der Edle Arkadij‹. Und als man den Sarg ins Grab versenkte, gaben die Soldaten blinde Schüsse in die Luft ab. Der Gastwirt wurde aber übers Jahr auf dem Iljinka-Platze vom Henker mit der Knute bestraft. Dreiundvierzig Knutenhiebe bekam er wegen Arkadij Iljitsch, blieb aber am Leben und kam mit gebrandmarktem Gesicht nach Sibirien. Alle unsere Leute, die gerade frei hatten, liefen hin, um zuzuschauen, und die Alten, die sich noch erinnerten, wie man den Mörder des alten Grafen bestraft hatte, sagten, daß dreiundvierzig Schläge viel zu wenig waren: Arkascha war eben von einfacher Abstammung; für den Grafen hatte man aber hundertundeinen Schlag gegeben. Nach dem Gesetz darf man ja keine gerade Zahl von Schlägen geben, es muß immer eine ungerade Zahl sein. Damals hatte man sich einen Henker aus Tula kommen lassen und ihm vorher drei Glas Rum zu trinken gegeben. Er hatte die ersten[200] hundert Schläge nur zur Peinigung gegeben, so daß der Verbrecher immer noch am Leben blieb; mit dem hundertersten Schlag zerschmetterte er ihm aber das Rückgrat. Als man ihn vom Brette aufhob, war er schon halbtot ... Man deckte ihn mit einer Bastdecke zu und wollte ihn ins Zuchthaus bringen ... Unterwegs gab er den Geist auf. Der Henker aus Tula schrie aber noch: ›Gebt mir noch jemand her, alle Leute von Orjol will ich totschlagen!‹«

»Nun, waren Sie auch selbst bei der Beerdigung?«

»Gewiß, wir alle waren dabei: der Graf hatte befohlen, daß man alle Leute vom Theater hinführt, damit sie sehen, wie weit es einer von den unsrigen bringen kann.«

»Haben Sie ihn auch im Sarge liegen sehen?«

»Gewiß! Alle gingen zum Sarge und nahmen von ihm Abschied ... Auch ich ging hin ... Er war so verändert, daß ich ihn gar nicht wiedererkannt hätte. So blaß und mager war er, – die Leute sagten, er hätte sein ganzes Blut verloren, weil ihn der Mörder um Mitternacht erstochen hat ... So viel Blut hat er verloren ...«

Sie hielt inne und wurde nachdenklich.

»Und Sie,« fragte ich, »wie haben Sie es überstanden?«

Sie erwachte gleichsam aus ihren Träumen und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

»Wie es mir anfangs zumute war, weiß ich nicht mehr, ich weiß auch nicht, wie ich nach Hause kam ... Ich ging ja mit allen zusammen vom Friedhof fort, also hat mich wohl jemand geführt ... Am Abend sagte mir aber Drossida Petrowna:

›So geht es nicht, du schläfst nicht und liegst wie ein Stein da. Das ist nicht gut! Du mußt weinen, damit das Herz einen Ausfluß hat.‹[201]

Ich sage ihr drauf:

›Ich kann nicht weinen, Tantchen, – mein Herz brennt wie eine Kohle und hat keinen Ausfluß.‹

Und sie antwortet:

›Also kannst du dem Placon nicht mehr entgehen.‹

Sie schenkte mir aus ihrem Fläschchen ein und sagte:

›Bisher habe ich dich davon zurückgehalten und es dir abgeraten. Jetzt ist aber nichts mehr zu machen: sauge daran und lösche die Kohle.‹

Ich ihr drauf: ›Ich habe keine Lust.‹

›Närrchen,‹ sagt sie mir, ›kein Mensch hat anfangs Lust dazu. Der Gram ist bitter, und das Gift ist noch bitterer. Wenn man die Kohle mit diesem Gift begießt, erlischt sie für eine Weile. Saug schnell daran!‹

Ich trank den ganzen Placon auf einmal aus. Es war mir widerlich, ich konnte aber anders nicht einschlafen. Und so war es auch in der nächsten Nacht ... Heute kann ich ohne ihn nicht mehr auskommen. Habe mir selbst einen Placon angeschafft und kaufe mir Schnaps ... Und du, liebes Kind, sag der Mama nichts davon: du sollst die einfachen Menschen niemals verraten, du sollst mit ihnen Mitleid haben, denn sie sind alle Dulder. Und wenn wir jetzt nach Hause gehen, werde ich gleich an der Ecke ans Fenster der Schenke klopfen ... Wir werden nicht hineingehen, ich werde nur den leeren Placon abgeben, und man wird mir einen neuen durchs Fenster reichen.«

Ich war gerührt und versprach ihr, keinem Menschen von ihrem Placon zu erzählen.

»Ich danke dir, Lieber, – sag es niemand: denn ich muß ihn haben.«[202]

Ich sehe sie auch heute noch vor mir: jede Nacht, wenn alle im Hause schlafen, steht sie von ihrem Bette auf, so leise, daß kein Knöchelchen knackt, sie lauscht und schleicht auf ihren langen erkälteten Beinen zum Fenster ... Sie steht eine Weile da, sieht sich um und lauscht wieder, ob meine Mutter nicht aus dem Schlafzimmer kommt; dann höre ich den Hals des »Placons« gegen ihre Zähne klappern ... Sie nimmt einen Schluck, einen zweiten und einen dritten ... So hat sie die Kohle für eine Zeitlang gelöscht und eine Totenfeier für ihren Arkascha abgehalten. Und dann schlüpft sie wieder unter die Decke, und ich höre sie nur leise mit der Nase pfeifen. Sie schläft!

Eine schrecklichere und herzzerreißendere Totenfeier habe ich noch nicht erlebt.[203]

Quelle:
Ljesskow, Nikolai: Der versiegelte Engel und andere Geschichten. München 1922, S. 200-204.
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