Fünftes Kapitel

[176] Ljubow Onissimowna stand um jene Zeit nicht nur in der Blüte ihrer jungfräulichen Schönheit, sondern auch in der interessantesten Entwicklungsperiode ihres vielseitigen Talents: sie sang in den Chören die »Potpourris«, tanzte »die ersten Pas in der Chinesischen Gärtnerin« und kannte, von einem Drange nach dem Tragischen erfüllt, »alle Rollen vom bloßen Zuschauen«.

Ich weiß nicht mehr genau, in welchen Jahren sich das abspielte. In Orjol wurde der Kaiser (ich weiß nicht recht, ob es Alexander Pawlowitsch oder Nikolai Pawlowitsch war) erwartet; er sollte in der Stadt übernachten und am Abend einer Vorstellung im Theater des Grafen Kamenskij beiwohnen.

Der Graf lud zu dieser Veranstaltung den ganzen Adel ein (sein Theater war für Geld überhaupt nicht zugänglich) und gab sich Mühe, die Aufführung möglichst glanzvoll zu gestalten. Ljubow Onissimowna sollte das »Potpourri« singen und die »Chinesische Gärtnerin« tanzen; bei der letzten Probe fiel aber eine Kulisse herab und verletzte die Schauspielerin, die im Stücke »Die Herzogin de Bourblanc« die Hauptrolle spielen sollte, am Fuße.

Ich habe noch nie etwas von einem Stück mit diesem Titel gehört, aber Ljubow Onissimowna sprach den Namen der Heldin so aus, wie ich ihn hier wiedergebe.

Die Theaterarbeiter, die die Kulisse fallen ließen, bekamen im Pferdestall ihre Prügel, die Verletzte wurde in ihre Kammer getragen, es gab aber niemand, der die Rolle der Herzogin de Bourblanc übernehmen konnte.

»Ich erklärte mich bereit,« erzählte Ljubow Onissimowna,[177] »diese Rolle zu spielen, denn es gefiel mir so gut, wie die Herzogin de Bourblanc ihren Vater auf den Knien um Verzeihung bittet und nachher mit aufgelösten Haaren stirbt. Ich hatte aber schönes langes blondes Haar, und Arkadij verstand es wunderbar zu frisieren.«

Der Graf war über die unerwartete Bereitwilligkeit des Mädchens, die Rolle zu spielen, sehr erfreut und sagte dem Regisseur, als dieser bestätigte, daß »Liuba die Rolle nicht verpatzen werde«:

»Wenn sie die Rolle verpatzt, wirst du es mir mit deinem Rücken büßen, ihr aber bringe von mir die Quamarin-Ohrringe.«

Die »Quamarin-Ohrringe« waren ein ebenso schmeichelhaftes wie verhaßtes Geschenk. Ihre Verleihung bedeutete die hohe Ehre, für einen Augenblick zur Odaliske des Grafen erhoben zu werden. Einige Zeit oder auch unmittelbar nach der Verleihung der Ohrringe bekam Arkadij den Auftrag, das zum Opfer auserwählte Mädchen gleich nach der Vorstellung als »heilige Cäcilie« zu kostümieren; das Mädchen wurde ganz weiß gekleidet, bekam den Heiligenschein um den Kopf und eine Lilie, das Symbol der Unschuld, in die Hand und wurde so in die Gemächer des Grafen geschafft.

»Das kannst du in deinem Alter noch nicht verstehen,« sagte die Kinderfrau, »es war aber das Schrecklichste, besonders für mich, denn ich sehnte mich damals nur nach Arkadij. Also begann ich zu weinen. Ich warf die Ohrringe auf den Tisch und konnte mir gar nicht denken, wie ich am Abend spielen würde.«

Um diese selbe Stunde trat auch an Arkadij eine ebenso verhängnisvolle Versuchung heran.[178]

Ein Bruder des Grafen, der immer auf seinem Gute lebte, kam in die Stadt, um sich dem Kaiser vorzustellen. Dieser Bruder war noch viel häßlicher als der andere: er hielt sich ständig auf dem Lande auf, zog nie die Uniform an und ließ sich niemals rasieren, weil sein Gesicht voller Beulen und Höcker war. Bei dieser außergewöhnlichen Gelegenheit mußte er aber die Uniform anlegen, sein Äußeres in Ordnung bringen und jenen »kriegerischen Ausdruck« annehmen, der damals verlangt wurde.

Es wurde aber sehr viel verlangt.

»Heute weiß man gar nicht mehr, wie streng da mals alles war,« sagte die Kinderfrau. »In allen Dingen wurde damals viel auf die Form gesehen, und den vornehmen Herren waren wie der Gesichtsausdruck, so auch die Haartracht genau vorgeschrieben. Manchem stand aber dieses vorschriftsmäßige Aussehen gar nicht: wenn man ihn nach der Vorschrift mit dem aufrecht stehenden Schöpf über der Stirne und den nach vorne gekämmten Haaren an den Schläfen frisierte, so sah er wie eine Bauern-Balalaika ohne Saiten aus.« Die vornehmen Herren hatten davor große Angst. Alles kam auf die Kunst des Friseurs und Raseurs an: von der Art und Weise, wie die Stege zwischen dem Backenbart und dem Schnurrbart ausrasiert, wie die Locken gebrannt und wie sie angeordnet waren, hing der ganze Gesichtsausdruck ab. Die Herren vom Zivil hatten es, wie die Kinderfrau sagte, viel leichter, denn man schenkte ihnen weniger Beachtung und verlangte von ihnen nur ein bescheidenes Aussehen; von den Militärpersonen verlangte man aber, daß sie den Vorgesetzten gegenüber Bescheidenheit und allen anderen Menschen gegenüber maßlosen Kampfesmut ausdrückten.[179]

Arkadij verstand aber mit seiner wunderbaren Kunst, dem häßlichen und unbedeutenden Gesicht des Grafen eben diesen Ausdruck zu verleihen.

Quelle:
Ljesskow, Nikolai: Der versiegelte Engel und andere Geschichten. München 1922, S. 176-180.
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