Vierzehntes Kapitel

[194] Man hatte sie auf den Viehhof gebracht, weil man glaubte, sie sei verrückt geworden. Geisteskranke Leibeigene, die zum Vieh herabgesunken waren, pflegte man »zwecks Prüfung« auf den Viehhof zu schaffen, denn die Viehwärter, lauter ältere und solide Leute, galten als berufen, Geisteskranke zu beobachten.

Die Frau in blauer Leinwand, bei der Ljubow Onissimowna zu sich kam, hieß Drossida und war sehr gutherzig.

Am Abend – fuhr die Kinderfrau fort – machte sie mir ein Lager aus frischem Haferstroh. Sie zerfaserte es, so daß es so weich wie Daunen war, und sagte mir: »Ich will dir alles eröffnen, Mädchen, komme was kommen mag. Ich bin aber ebenso wie du und habe nicht immer diese blaue Leinwand getragen. Auch ich habe schon ein anderes Leben gesehen. Ich mag daran gar nicht zurückdenken, dir will ich aber nur dieses sagen: gräme dich nicht, daß du auf den Viehhof verbannt worden bist, in[194] der Verbannung ist es viel besser, nimm dich aber vor diesem schrecklichen Placon in acht ...«

Und sie holt aus dem Busentuch ein weißes Fläschchen und zeigt es mir.

Ich frage:

»Was ist das?«

Und sie antwortet:

»Trink es nicht: es ist Schnaps. Ich habe mich einmal nicht beherrschen können ... gute Menschen hatten es mir gegeben ... Jetzt kann ich ohne den Placon gar nicht leben ... Du aber enthalte dich, solange du kannst, und verurteile mich nicht, wenn ich ein wenig davon sauge, denn es ist mir gar zu weh ums Herz. Du sollst aber noch einen Trost im Leben erfahren: Gott hat ihn schon von der Tyrannei erlöst ...«

Ich schrie auf: »Er ist tot!« und griff mich an die Haare. Ich erkenne meine Haare nicht: ganz weiß sind sie geworden ... Was ist das?

Und sie sagt mir:

»Erschrecke nicht, deine Haare sind dort, als man dich aus deinem Zopf befreite, weiß geworden; er aber lebt und ist von der Tyrannei erlöst: der Graf hat ihm eine Gnade erwiesen, die noch niemand erlebt hat. Wenn die Nacht kommt, werde ich dir alles erzählen, jetzt will ich noch ein wenig an meinem Placon saugen ... Das Herz brennt mir so ...«

Und sie sog solange daran, bis sie einschlief.

Nachts aber, als alle schon schliefen, stand Tantchen Drossida wieder auf, ging, ohne Licht zu machen, ans Fenster, sog wieder am Placon, versteckte ihn und fragte mich leise:[195]

»Schläft der Gram oder schläft er nicht?«

Und ich antwortete:

»Der Gram schläft nicht.«

Sie kam an mein Bett und erzählte mir, daß der Graf den Arkadij nach der Züchtigung zu sich berufen und ihm gesagt habe:

»Du mußtest alles durchmachen, was ich für dich festgesetzt hatte. Da du mein Favorit warst, werde ich dir meine Gnade erweisen: morgen stecke ich dich unter die Soldaten. Da du aber meinen Bruder, den durchlauchtigsten Grafen, trotz seiner Pistolen nicht gefürchtet hast, will ich dir den Weg der Ehre eröffnen, – ich will nicht, daß du tiefer als auf der Stufe stehst, auf die du dich selbst mit deinem edlen Geiste gestellt hast. Ich will einen Brief schreiben, daß man dich sofort in den Krieg schickt, und du wirst nicht als gewöhnlicher Soldat, sondern als Sergeant kämpfen. Zeige nun deinen Mut. Und du stehst jetzt nicht mehr unter meinem Willen, sondern unter dem Willen des Zaren.«

»Jetzt hat er es leichter,« sagte Tantchen Drossida, »und hat nichts zu fürchten: jetzt droht ihm nur eine Gefahr: in der Schlacht zu fallen; die Tyrannei des Grafen ist er aber los.«

Ich glaubte ihr jedes Wort und träumte drei Jahre lang jede Nacht von Arkadij Iljitsch, wie er kämpfte.

So vergingen die drei Jahre, und Gott war mir gnädig: man schickte mich nicht mehr ans Theater, sondern ließ mich bei der Tante Drossida im Kälberstall als ihre Gehilfin. Hier hatte ich es gut, und die Frau tat mir sehr leid. Wenn sie nicht allzuviel getrunken hatte, erzählte sie mir nachts Geschichten, und ich hörte ihr gerne zu. Sie konnte[196] sich noch erinnern, wie der alte Graf von seinen eigenen Leuten erstochen worden war. Sein Kammerdiener war der Haupttäter gewesen, – die Leute hatten seine Grausamkeit einfach nicht länger ertragen können. Ich trank aber noch immer nicht und tat mit großer Freude die Arbeit für Tantchen Drossida: die Kälbchen waren mir wie Kinder. Ich hatte sie so lieb, daß, wenn man eines aus dem Stalle nahm, um es für den gräflichen Tisch zu schlachten, ich es beim Abschied bekreuzigte und dann drei Tage lang beweinte. Fürs Theater taugte ich nicht mehr, denn ich konnte nicht mehr richtig die Beine bewegen. Einst hatte ich einen wunderschönen leichten Gang; auf der Flucht mit Arkadij Iljitsch hatte ich mir wohl die Füße erkältet und hatte nicht mehr die einstige Kraft in den Spitzen. Ich kleidete mich in die gleiche blaue Leinwand wie Drossida, und Gott allein weiß, wie ich mein Leben beschlossen hätte. Aber eines Abends bei Sonnenuntergang, wie ich in der Stube sitze und Garn aufwickele, fliegt zum Fenster ein Steinchen herein, und das Steinchen ist in ein Papier eingeschlagen.

Quelle:
Ljesskow, Nikolai: Der versiegelte Engel und andere Geschichten. München 1922, S. 194-197.
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