[45] Ich will Sie nicht mit Einzelheiten aufhalten, wie ich und mein Gefährte durch alle Nadelöhre schlüpften und überall hinkamen; ich will Ihnen gleich von der Trauer berichten, die uns ergriff, als wir erfuhren, daß man unsere von den Beamten durchbohrten Ikonen, so wie sie auf die Stange aufgespießt waren, in den Keller des Konsistoriums geworfen hatte. Damit war die Sache für uns verloren und wie im Sarge begraben; es war vergeblich, noch weiter an sie zu denken. Erfreulich dagegen war, daß man sich erzählte, der Erzbischof selbst habe diese barbarische Handlungsweise nicht gebilligt, sondern im Gegenteil gesagt: »Wozu das?« Er sei sogar für das alte Kunstwerk eingetreten und habe erklärt: »Es ist ein altes Stück, das man schützen muß«. Schlimm dagegen war, daß, als das durch die Schändung entstandene Unheil noch nicht überwunden war, uns ein neues, größeres durch diesen neuen Verehrer traf: Derselbe Erzbischof nahm, was man hinzufügen muß, nicht in schlimmer, sondern in guter Absicht unseren versiegelten Engel in die Hand und betrachtete ihn lange, dann legte er ihn zur Seite und sagte: »Das verstörte Antlitz! Wie schrecklich hat man es zugerichtet! Man tue dieses Bild nicht in den Keller, sondern stelle es in meine Kapelle aufs Fenster neben den Opfertisch.« Die Diener des Erzbischofes führten[45] den Befehl aus, und wenn uns einerseits, wie ich gestehen muß, diese Aufmerksamkeit des Hierarchen sehr angenehm berührte, so sahen wir andererseits doch ein, daß dadurch jede Aussicht, unseren Engel rauben zu können, vereitelt war. Es blieb nur ein Mittel übrig: die Diener des Erzbischofs zu bestechen und mit ihrer Hilfe das Bild mit einem kunstvoll ähnlich gemalten zu vertauschen. Das hatten unsere Altgläubigen schon oft mit Erfolg gemacht, aber dazu wäre vor allen Dingen ein kunstfertiger Heiligenbildmaler mit einer erprobten Hand nötig gewesen, der es verstanden hätte, heimlich ein genaues Abbild herzustellen. Einen solchen Maler gab es jedoch in dieser Gegend nicht. Zudem befiel uns seit dieser Zeit doppelte Trauer, die wie Wassersnot über uns kam. In der Stube, in der man früher nur Lobsingen hörte, vernahm man nichts als Schluchzen, und in kurzer Zeit hatten wir uns so krank geweint, daß wir mit unseren tränenerfüllten Augen den Boden nicht mehr sehen konnten, und dadurch, oder aus einem anderen Grunde entstand dann bei uns eine Augenkrankheit, die mit der Zeit alle ergriff. Was es bisher nicht gegeben hatte, geschah jetzt: wir hatten Kranke ohne Zahl. Das ganze Arbeitervolk fand dafür die Deutung, daß es nicht ohne Grund geschehe, sondern wegen des Engels der Altgläubigen. »Man hat ihn,« sagten sie, »durch das Siegel geblendet, und jetzt müssen wir alle erblinden.« Diese Auslegung fand nicht nur bei uns allein Glauben, sondern auch alle kirchlich Gesinnten waren aufgebracht.
Obwohl unsere Brotgeber, die Engländer, Ärzte kommen ließen, ging niemand zu ihnen hin, und auch ihre[46] Arzneien wollte niemand nehmen, sondern wir alle flehten nur um das eine:
»Bring uns den versiegelten Engel. Wir wollen vor ihm einen Bittgottesdienst halten, er allein kann uns helfen!«
Unser Engländer Jakow Jakowlewitsch nahm sich der Sache an, fuhr selbst zum Erzbischof und sagte ihm:
»So steht es, Eminenz: der Glaube ist eine große Sache, und einem jeden wird alles nach seinem Glauben gegeben; geben Sie uns doch den Engel aufs andere Ufer!«
Der Erzbischof aber wollte davon nichts wissen und sagte:
»Dem darf kein Vorschub geleistet werden.«
Damals erschien uns dieses Wort grausam, und wir verurteilten den Erzbischof leichtfertig, später aber wurde uns offenbar, daß dies alles nicht aus Hartherzigkeit, sondern durch Gottes Vorsehung geschah.
Indessen nahmen die Zeichen kein Ende, und der strafende Finger traf auch den Hauptschuldigen in dieser Sache, Pimen, selbst, der nach diesem Unheil von uns geflohen war, auf dem anderen Ufer lebte und der Staatskirche beitrat. Ich begegnete ihm einmal dort in der Stadt, er begrüßte mich, und ich grüßte ihn wieder. Dann sagte er mir:
»Ich habe gesündigt, Bruder Mark, daß ich mich von eurem Glauben abgeschieden habe.«
Ich antwortete ihm:
»Was einer glaubt, das ist Gottes Sache, aber daß du den Armen um ein Paar Stiefel verkauft hast, das war nicht gut gehandelt; verzeih mir, daß ich dir, wie es der Prophet Amos befiehlt, brüderliche Vorwürfe mache.«[47]
Bei der Nennung des Propheten überlief ihn ein Schauder.
»Sprich mir nicht von den Propheten,« sagte er, »ich kenne die Schrift selbst und fühle, wie die Propheten die auf der Erde Lebenden strafen. Ich selbst habe dafür ein Zeichen.« Und er klagte mir, daß er, als er neulich im Flusse gebadet hatte, am ganzen Körper fleckig geworden sei; er machte seine Brust frei und zeigte mir auf ihr Flecken, wie bei einem gescheckten Pferde, die sich von der Brust bis hinauf zum Halse zogen.
Ich sündiger Mensch hatte schon im Sinne, ihm zu sagen, daß »Gott den Schelm zeichne«, aber ich unterdrückte diese Worte und sagte:
»Nun, was hat das zu bedeuten? Bete nur und sei froh, daß du auf dieser Welt gezeichnet bist, vielleicht wirst du dann in der kommenden rein dastehen.«
Aber er klagte mir, wie unglücklich er darüber sei und was er einbüße, wenn die Flecken auch das Gesicht ergreifen würden. Der Gouverneur selbst habe, als er ihn, Pimen, bei seinem Übertritt in die Kirche sah, große Freude an seiner Schönheit gehabt und dem Stadthauptmann gesagt, er solle Pimen beim Empfang vornehmer Personen unbedingt ganz vorne mit der silbernen Schüssel in den Händen aufstellen. Aber einen fleckigen Menschen könne man doch nicht aufstellen! Was brauchte ich aber seine eitlen und hohlen Worte weiter anzuhören? – Ich drehte mich um und ging.
Seit der Zeit waren wir von ihm geschieden. Seine Flecken wurden immer sichtbarer, aber auch bei uns hörten die Zeichen nicht auf. Schließlich setzte im Herbst, als der Fluß kaum zugefroren war, plötzlich Tauwetter ein,[48] das das ganze Eis auseinanderriß und unsere Behausungen zerstörte. Und jetzt folgte Schaden auf Schaden, bis einmal sogar einer der Granitpfeiler unterspült wurde und der Strudel das Werk vieler Jahre, das viele Tausende gekostet hatte, verschlang.
Dies machte sogar unsere Brotgeber, die Engländer, bestürzt, und irgendjemand riet ihrem Ältesten, Jakow Jakowlewitsch, uns Altgläubige wegzuschicken, um von all dem Übel wieder erlöst zu werden. Der Engländer aber war ein Mensch mit rechtschaffnem Herzen und hörte nicht darauf; er ließ sogar mich und Luka Kirillow zu sich rufen und sagte:
»Kinder, gebt mir selbst einen Rat: kann ich euch nicht irgendwie helfen und euch trösten?«
Wir antworteten ihm, daß es für uns keinen Trost gäbe, solange das uns heilige Antlitz des Engels, das uns überall begleitet hatte, mit Feuerharz versiegelt sei, und daß wir vor Leid vergingen.
»Was gedenkt ihr zu tun?« fragte er.
»Wir wollen ihn einmal vertauschen und sein reines Antlitz, das die gottlose Hand des Beamten unter dem Siegel verborgen hat, entsiegeln.«
»Warum ist euch der Engel so teuer, und kann man euch nicht einen anderen ebensolchen verschaffen?«
»Er ist uns deshalb so teuer,« antworteten wir, »weil er uns beschützt hat; einen anderen können wir aber nicht bekommen, weil dieser in schwerer Zeit von gottesfürchtiger Hand gemalt und von einem Priester des alten Glaubens nach dem Brevier des Pjotr Mogila geweiht worden ist. Jetzt aber haben wir weder Priester noch jenes Brevier.«[49]
»Aber wie wollt ihr ihn entsiegeln, wo doch der Siegellack das ganze Gesicht ausgebrannt hat?«
Wir antworteten:
»Euer Gnaden, was das anbelangt, so haben Sie keine Sorge: wenn wir ihn nur in unsere Hände bekommen, wird er, unser Beschützer, schon selbst für sich sorgen. Er ist keine Handelsware, sondern eine echte Stroganower Arbeit, und die Stroganower wie die Kostromaer Lacke sind so zubereitet, daß das Bild nicht einmal den Feuerbrand zu fürchten braucht, er läßt das Harz an die zarten Farben nicht einmal heran.«
»Seid ihr davon überzeugt?«
»Ja, das sind wir: dieser Lack ist so stark wie der alte russische Glaube selbst.«
Er schimpfte noch auf jene, die ein solches Kunstwerk nicht zu schätzen verstanden hatten, gab uns die Hand und sagte nochmals:
»Nun, verzagt nicht, ich bin euer Helfer, wir werden euern Engel bekommen. Braucht ihr ihn für lange?«
»Nein,« antworteten wir, »für ganz kurze Zeit.«
»Nun, dann sage ich den Leuten, daß ich für euren versiegelten Engel kostbare goldene Beschläge machen lassen will, und wenn man ihn mir dann gibt, vertauschen wir ihn. Gleich morgen will ich mich daran machen.«
Wir dankten ihm und erwiderten:
»Herr, unternehmen Sie bitte morgen und auch übermorgen noch nichts.«
»Warum das?« fragte er.
Wir antworteten:
»Weil wir, Herr, vor allen Dingen ein Bild zum Vertauschen[50] haben müssen, das dem echten wie ein Wassertropfen dem andern gleicht. Solche Meister gibt es hier aber nicht und werden auch in der Nähe nicht zu finden sein.«
»Das ist eine Kleinigkeit,« sagte er, »ich werde euch selbst aus der Stadt einen Künstler mitbringen, der nicht nur Kopien malt, sondern selbst vortreffliche Porträts.«
»Nein,« antworteten wir, »tun Sie das bitte nicht: erstens würde durch diesen weltlichen Maler vielleicht ein unziemliches Gerede entstehen, zweitens kann ein Maler diese Aufgabe gar nicht erfüllen.«
Der Engländer glaubte es nicht, und so trat ich vor und legte ihm den ganzen Unterschied klar: daß die jetzigen weltlichen Maler eine andere Kunstart haben, daß sie nämlich mit Ölfarben malen, während dort die Farben mit Eiweiß angerieben werden und ganz zart sind. In der neuen weltlichen Malerei ist die Darstellung hingeschmiert und erscheint nur in einiger Entfernung natürlich, während hier alles fließend und noch in der Nähe deutlich ist. Einem weltlichen Maler würde selbst die Wiedergabe der Zeichnung nicht gelingen, weil sie nur gelernt haben, den irdischen Körper abzubilden und was den körperlichen Menschen ausmacht, während in der heiligen russischen Ikonenmalerei der verklärte himmlische Leib dargestellt wird, den sich der materielle Mensch nicht einmal vorstellen kann.
Das interessierte ihn, und er fragte:
»Aber wo gibt es denn solche Meister, die sich heute noch auf diese besondere Art verstehen?«
»Sie sind heute,« berichtete ich ihm weiter, »sehr selten, und selbst damals lebten sie in tiefer Verborgenheit. Im[51] Dorfe Mstera lebt ein Meister namens Chochlow, aber er ist schon hoch in den Jahren und kann die weite Reise nicht machen. Auch in Palichow leben zwei, aber auch die werden die Reise nicht unternehmen, zudem taugen uns weder die Msterer noch die Palichower Meister.«
»Weshalb denn das?« forschte er weiter.
»Weil sie,« antwortete ich, »eine andere Manier haben: bei den Msterern ist die Zeichnung schwerfällig und der Farbton trüb, bei den Palichowern dagegen ist der Ton türkisfarbig, alles schimmert bei ihnen bläulich.«
»Was soll man nun machen?« fragte er.
»Ich weiß es selbst nicht,« antwortete ich. »Ich habe zwar gehört, es gäbe in Moskau noch einen guten Meister, namens Ssilatschow. Er hat in ganz Rußland, auch bei den Unsrigen einen guten Namen, aber er entspricht mehr der Nowgorodschen und der Zarisch-Moskowitischen Art. Unsere Ikone aber ist Stroganower Zeichnung mit den klarsten heiligsten Farben, so daß uns einzig der Meister Ssewastian von der Wolga helfen könnte, aber der ist ein leidenschaftlicher Wanderer und zieht durch ganz Rußland, macht bei den Altgläubigen Ausbesserungen, und niemand weiß, wo er zu finden ist.«
Der Engländer hatte meinen ganzen Bericht mit Vergnügen angehört, lächelte ein wenig und antwortete:
»Ihr seid sehr wunderliche Leute,« sagte er, »aber wenn man euch zuhört, wird es einem wohl, denn ihr scheint alles, was euch angeht, gut zu kennen und sogar in der Kunst Bescheid zu wissen.«
»Warum sollen wir denn von der Kunst nichts erfaßt haben, Herr?« sage ich: »Hier handelt es sich doch um Gotteskunst, und bei uns gibt es unter den ganz einfachen[52] Bauern so große Liebhaber dieser Kunst, daß sie nicht nur alle Schulen auseinanderhalten, wodurch sich zum Beispiel eine von der anderen unterscheidet, die Ustjuger oder die Nowgoroder, die Moskauer oder die Wologdaer, die Sibirische oder die Stroganower, sondern die sogar in derselben Schule die Werke der berühmten, alten russischen Meister fehlerlos unterscheiden.«
»Kann denn das sein?«
»Genau so, wie Sie die Handschrift eines Menschen von der eines anderen unterscheiden, so auch jene«, antwortete ich. »Sie schauen nur hin und sehen gleich, ob es Kusjma, Andrej oder Prokofij gemalt hat.«
»An welchen Merkmalen?«
»Es gibt Unterschiede in der Zeichnung, im Ton, in der Raumverteilung, in den Gesichtszügen und in den Bewegungen.«
Er hörte immerfort zu, und ich erzählte ihm, was ich über die Malerei eines Uschakow und eines Rubljow wußte, und vom ältesten russischen Maler Paramschin, dessen Heiligenbilder unsere gottesfürchtigen Fürsten und Zaren ihren Kindern zum Segen schenkten, denen sie sogar in ihren Vermächtnissen befahlen, diese Ikonen wie ihren Augapfel zu hüten.
Der Engländer zog gleich sein Notizbuch heraus, ließ mich den Namen dieses Malers wiederholen und fragte, wo man Arbeiten von ihm sehen könnte. Aber ich antwortete:
»Sie werden vergeblich suchen, Herr. Nirgends ist eine Erinnerung an sie zurückgeblieben.«
»Wo sind sie denn geblieben?«
»Ich weiß nicht,« sagte ich, »ob man sie zum Pfeifenreinigen[53] verwendet oder bei den Deutschen gegen Tabak eingetauscht hat.«
»Es kann nicht sein!«
»Im Gegenteil,« antwortete ich, »es kann sehr wohl sein, es gibt Beispiele dafür: der römische Papst hat im Vatikan ein Triptychon, das unsere russischen Ikonenmaler Andrej, Ssergej und Nikita im dreizehnten Jahrhundert gemalt haben. Diese vielfigurigen Miniaturen sollen so wunderbar sein, daß selbst die größten ausländischen Maler, die sie sahen, vor diesem wundervollen Werk in Begeisterung gerieten.«
»Aber wie ist es nach Rom gekommen?«
»Peter der Erste hat es einem ausländischen Mönch geschenkt, und der hat es verkauft.«
Der Engländer lächelte ein wenig, wurde dann nachdenklich und sagte leise, daß bei ihnen in England jedes Bildchen von Geschlecht zu Geschlecht bewahrt werde und daß es so für seine Herkunft selbst Zeugnis ablege.
»Nun, bei uns herrscht wahrhaftig eine andere Sitte,« sagte ich, »das Band der Überlieferungen der Vorfahren ist zerrissen, damit alles neu erscheine, als sei das ganze russische Geschlecht erst gestern von der Henne in den Nesseln ausgebrütet worden.«
»Wenn die bei euch gezüchtete Unwissenheit so groß ist, warum bemühen sich dann nicht wenigstens diejenigen, die die Liebe zum Heimatlichen bewahrt haben, die einheimische Kunst zu erhalten?«
Ich antwortete: »Es ist niemand da, Herr, der uns unterstützen würde, denn in den neuen Kunstschulen verfault allerorts das Gefühl, und der Verstand unterwirft sich der Eitelkeit. Die Fähigkeit zur hohen Begeisterung[54] ist verloren gegangen, alles wird vom Irdischen abgeleitet und atmet irdische Leidenschaft. Unsere neuesten Maler haben damit begonnen, den Erzengel Michael nach dem Bildnis des Fürsten Potjomkin von Taurien darzustellen, und jetzt sind sie so weit, daß sie Christus den Erlöser als Juden abbilden. Was soll man von solchen Menschen erwarten? Ihre unbeschnittenen Herzen werden schließlich noch andere Dinge malen und verlangen, daß man die als Gottheit verehre. Hat man doch in Ägypten einen Stier und eine rotgefiederte Zwiebel angebetet; nur wir werden uns nicht vor den fremden Göttern beugen und werden das Judengesicht nicht als das Antlitz des Erlösers anerkennen. Ja, so kunstfertig diese Bilder auch sein mögen, wir halten sie für eine herzlose Frechheit und wollen von ihnen nichts wissen, weil es in der Überlieferung der Väter heißt, daß die Ergötzung der Augen die Reinheit der Vernunft zerstört, wie ein schadhafter Wasserspeier das Wasser trübt.«
Damit schloß ich und schwieg, aber der Engländer sagte:
»Fahre fort, mir gefällt es, wie du urteilst!«
Ich antwortete: »Ich habe schon alles erzählt.« Er aber erwiderte:
»Nein, erzähle mir noch, was ihr unter einem beseelten Bilde versteht.«
Diese Frage, meine werten Herren, war für einen einfachen Menschen ziemlich schwierig, aber es war nichts zu machen, und ich begann zu erzählen, wie in Nowgorod der Sternenhimmel gemalt ist, und dann berichtete ich von dem Kiewer Bild in der Sophienkathedrale, wo zu Seiten des Herrn Zebaoth sieben geflügelte Erzengel[55] stehen, die natürlich keine Ähnlichkeit mit dem Fürsten Potjomkin haben, und auf den Stufen der Vorhalle die Erzväter und Propheten dargestellt sind, unter ihnen Moses mit der Gesetzestafel, noch tiefer Ahron mit Mitra und Stab, und auf der anderen Seite der Stufen König David mit der Krone, der Prophet Jesaias mit der Schriftrolle, Hesekiel mit der Geschlossenen Pforte, Daniel mit dem Stein, und um diese Fürbitter, die den Weg zum Himmel weisen, sind die Gaben abgebildet, durch die der Mensch diesen Ruhmesweg erklimmen mag, wie: das Buch mit den sieben Siegeln als die Gabe der Allweisheit, der siebenarmige Leuchter als die Gabe der Vernunft, die sieben Augen als die Gabe des Rates, die sieben Posaunen als die Gabe der Kraft, die Hand Gottes inmitten von sieben Sternen als die Gabe der Gesichte, die sieben Räucherbecken als die Gabe der Frömmigkeit und die sieben Blitze als die Gabe der Gottesfurcht. »Sehen Sie,« sagte ich, »eine solche Darstellung ist erhebend.«
Der Engländer antwortete: »Verzeih mir, mein Lieber, ich verstehe nicht, weshalb du dies erhebend nennst.«
»Weil eine solche Darstellung uns klar sagt, daß es dem Christenmenschen ansteht, zu beten und darnach zu lechzen, sich von dieser Welt zu Gottes unsagbarem Glanze zu erheben.«
»Ja,« erwiderte er, »das kann aber doch ein jeder aus der Schrift und aus dem Gebete erfassen.«
»Nein, durchaus nicht,« antwortete ich, »es ist nicht jedem gegeben, die Schrift zu verstehen, und dem, der sie nicht versteht, gibt auch das Gebet nur Finsternis. Mancher hört die Verheißung der großen und reichen Gnade und schließt daraus, daß damit Geld gemeint sei[56] und betet voller Habsucht; sieht er aber vor sich den himmlischen Glanz dargestellt, so vergißt er hierüber das höchste irdische Glück und sieht ein, daß er dieses Ziel erreichen müsse, weil dort alles so klar und einleuchtend geschildert ist. Hat dann der Mensch für seine Seele zunächst die Gabe der Gottesfurcht erbetet, so erhebt sie sich gleich, von der irdischen Schwere befreit, von Stufe zu Stufe und erringt mit jedem Schritte mehr vom Überfluß der göttlichen Gaben. Und von der Zeit an erscheint dem Menschen im Gebet das Geld und aller irdischer Ruhm nur als verabscheuungswürdig vor dem Herrn.«
Der Engländer erhob sich von seinem Platze und sagte lächelnd: »Und ihr, Sonderlinge, was erbetet ihr euch?«
»Wir beten,« antwortete ich, »um ein christliches Ende und um ein mildes Gericht am jüngsten Tag.«
Er lächelte wieder und zog plötzlich an einer goldgelben Schnur; ein grüner Vorhang ging auf, und hinter ihm saß seine Frau, die Engländerin, auf einem Sessel und strickte vor einer Kerze mit langen Stricknadeln. Sie war eine schöne freundliche Dame, und wenn sie auch nur wenig russisch sprechen konnte, so verstand sie doch alles und hatte gewiß unser Gespräch mit ihrem Manne über die Religion mit anhören wollen.
Und was denken Sie wohl? Kaum war der Vorhang, der sie verdeckt hatte, zurückgezogen, als die Gute sogleich wie erschrocken aufstand, an mich und Luka herantrat und uns Bauern ihre beiden Händchen entgegenstreckte. In ihren Augen blinkten Tränen, und sie sagte:
»Gute Menschen, gute russische Menschen!«
Ich und Luka küßten ihr für dieses gute Wort beide[57] Hände, aber sie drückte ihre Lippen auf unsere Bauernköpfe.
Der Erzähler hielt inne, bedeckte die Augen mit dem Ärmel, wischte sie still und flüsterte dann: »Sie war eine rührende Frau.« Nachdem er sich gefaßt hatte, fuhr er fort:
Nach ihrer freundlichen Tat begann die Engländerin ihrem Manne etwas in ihrer Sprache auseinanderzusetzen. Wenn wir es auch nicht verstanden, so hörten wir an der Stimme, daß sie ihn für uns bat. Und der Engländer freute sich über die Güte seiner Frau, strahlte vor Stolz, streichelte der Frau immerfort das Köpfchen und girrte in seiner Sprache wie eine Taube: »Gut, gut«, oder was er ihr sonst gesagt haben mag; aber es war ersichtlich, wie er sie lobte und sie in etwas bestärkte. Dann trat er an seinen Schreibtisch, nahm zwei Hundertrubelscheine heraus und sagte:
»Luka, hier hast du Geld, geh und suche den kunstfertigen Heiligenbildermaler, wo du ihn zu finden meinst, damit er euch anfertigt, was ihr braucht. Er kann auch für meine Frau etwas in eurer Art malen; sie will ihrem Sohne eine solche Ikone schenken und gibt euch für eure Bemühungen und Auslagen das Geld.«
Sie aber lächelt durch die Tränen und entgegnet rasch: »Nein, nein, nein, das ist von ihm, aber ich will von mir extra.« Und mit diesen Worten geht sie zur Tür hinaus und bringt einen dritten Hunderter.
»Mein Mann,« sagt sie, »hat mir das für ein Kleid geschenkt, aber ich will kein Kleid, ich stifte es euch.«
Wir weigern uns natürlich es anzunehmen, aber sie will davon gar nichts hören und läuft hinaus, während er sagt:[58]
»Nein, wagt nicht, es ihr zu verweigern und nehmt, was sie euch gibt.« Damit wendet er sich weg und sagt: »Geht jetzt, ihr Sonderlinge!«
Wir waren durch diese Verabschiedung natürlich nicht beleidigt, weil wir wohl bemerkt hatten, daß sich der Engländer von uns weggewandt hatte, nur um seine Rührung vor uns zu verbergen.
So haben uns, meine werten Herren, unsere eigenen Landsleute in ihrer Herzensfinsternis verurteilt, und die englische Nation hat uns getröstet und unserer Seele den Eifer wiedergegeben.
Nun wendet sich, meine besten Herren, meine Erzählung dem Ende zu, und ich will Ihnen in Kürze berichten, wie ich meinen lieben, »silbergezäumten« Lewontij mitnahm, wie wir nach dem Ikonenmaler auszogen, welche Ortschaften wir durchwanderten, was für Leute wir sahen, welche neue Wunder sich uns offenbarten, wie wir zuguterletzt fanden, was wir verloren hatten und womit wir zurückkehrten.
Buchempfehlung
In einem belebten Café plaudert der Neffe des bekannten Komponisten Rameau mit dem Erzähler über die unauflösliche Widersprüchlichkeit von Individuum und Gesellschaft, von Kunst und Moral. Der Text erschien zuerst 1805 in der deutschen Übersetzung von Goethe, das französische Original galt lange als verschollen, bis es 1891 - 130 Jahre nach seiner Entstehung - durch Zufall in einem Pariser Antiquariat entdeckt wurde.
74 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro