[29] Am Morgen gingen wir alle an unsere Arbeit, nur Luka Kirillow nicht. Das war in anbetracht seiner Pünktlichkeit erstaunlich, noch erstaunlicher aber war, daß er um acht Uhr ganz verstört und bleich zu uns kam.
Ich wußte, daß er ein Mann war, der sich in der Hand hatte und es nicht liebte, sich unnütz zu grämen, und darum wurde ich aufmerksam und fragte:
»Was hast du, Luka Kirillow?«
Aber er sagt: »Später sage ich es.«
Jung, wie ich damals war, war ich schrecklich neugierig, zudem hatte mich eine Vorahnung gepackt, daß sich irgendetwas Unheilvolles für unseren Glauben ereignet habe. Ich hielt aber den Glauben hoch und war niemals kleingläubig.
Ich konnte es nicht länger aushalten, verließ unter irgendeinem Vorwand die Arbeit und lief nach Hause. Ich dachte mir: solange niemand zu Hause ist, kann ich von Michailiza etwas erfahren. Wenn ihr Luka Kirillow auch nichts eröffnet hat, so durchschaut sie ihn, trotz ihrer Einfalt, und vor mir wird sie nichts verheimlichen, da ich, schon als Kind verwaist, bei ihr an Sohnesstatt aufgewachsen bin, und sie mir wie eine zweite Mutter gewesen ist.
Ich eile zu ihr und sehe sie in einem alten offenen[29] Halbpelz auf dem Freitreppchen sitzen; aber sie ist krank und traurig und ganz fahl im Gesicht.
»Warum sitzen Sie hier, Pflegemutter?« frage ich.
Und sie antwortet:
»Wo soll ich denn sonst bleiben, Marotschka?«
Ich heiße Mark Alexandrow, aber sie nannte mich in ihrer mütterlichen Zärtlichkeit Marotschka.
Was sind das für Dummheiten, denke ich mir, daß sie nicht weiß, wo sie sonst bleiben soll?
»Aber warum,« sage ich, »legen Sie sich denn nicht ein wenig im Schuppen hin?«
»Ich kann nicht, Marotschka,« antwortet sie, »in der großen Stube betet der alte Maroi.«
Aha, denke ich mir, es wird schon so sein, daß sich irgendetwas mit unserm Glauben zugetragen hat; und nun beginnt auch Tante Michailiza:
»Marotschka, du weißt sicher nichts, Kind, von dem, was sich heute nacht bei uns ereignet hat?«
»Nein, Pflegemutter, ich weiß nichts.«
»Ach, es ist schrecklich.«
»Erzählen Sie doch schneller, Pflegemutter!«
»Ich weiß nicht, ob ich es erzählen darf.«
»Warum wollen Sie nicht erzählen?« sage ich: »Bin ich denn für Sie ein Fremder und nicht an Sohnesstatt?«
»Ich weiß, mein Lieber, daß du mir wie ein Sohn bist,« antwortet sie, »aber ich habe kein Vertrauen, daß ich es dir auseinandersetzen kann, denn ich bin dumm und einfältig. Warte doch, nach Feierabend kommt der Onkel, und der wird dir gewiß alles erzählen.«
Aber ich konnte nicht warten und drang in sie:[30]
»Erzähle doch, erzähle doch gleich, was alles geschehen ist.«
Ich sehe, wie sie mit den Lidern blinzelt und wie sich ihre Augen mit Tränen füllen, die sie mit dem Brusttuch abwischt; dann flüstert sie mir leise zu:
»Kind, der Schutzengel ist heute Nacht von uns fortgegangen.«
Diese Eröffnung machte mich zittern.
»Sagen Sie doch bitte schnell, wie das Wunder geschehen ist und wer es gesehen hat!«
»Das Wunder, Kind, ist unerklärlich, und niemand außer mir hat es gesehen, weil es tiefe Mitternacht war, als es geschah und ich allein nicht schlief.«
Und dann, meine werten Herren, erzählte sie mir folgende Geschichte:
»Nachdem ich gebetet hatte, war ich eingeschlafen. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich schlief, aber plötzlich sehe ich im Traum eine Feuersbrunst, eine ganz große Feuersbrunst. Es war, als ob alles bei uns verbrannt wäre, und der Fluß führe die Asche mit sich fort, aber an den Strudeln um die Brückenjoche kreist sie noch, und dann schluckt sie der Fluß in die Tiefe.« Und Michailiza träumt, als sei sie hinausgelaufen und stehe in einem alten zerrissenen Hemd ganz unten am Wasser, aber ihr gegenüber am anderen Ufer erhebe sich eine hohe, rote Säule, und oben auf der Säule stehe ein kleiner, weißer Hahn, der in einem fort mit den Flügeln schlage. Michailiza fragt: »Wer bist du?«, denn das Gefühl sagt ihr, daß dieser Vogel ein Vorzeichen sei. Der Hahn aber ruft plötzlich mit menschlicher Stimme »Amen«, sonst nichts, und dann ist er verschwunden, aber um Michailiza herum[31] herrscht eine große Stille, und die Luft ist so dünn, daß sie keinen Atem mehr bekommt und es ihr schrecklich zumute wird. Dann wacht sie auf, liegt da und vernimmt deutlich, wie vor der Tür ein Lämmchen blökt. Und an der Stimme merkt sie, daß es ein neugeborenes Lämmchen ist. Mit hellem silbernen Stimmchen macht es bä-ä-äh, und plötzlich hört Michailiza, daß es durch die Gebetsstube geht, mit seinen kleinen Hufen auf den Boden klopft und hin und wieder stehen bleibt, als ob es etwas suche. Michailiza überlegt: Herr Jesu Christ, was soll das bedeuten? In unserer ganzen Ansiedlung gibt es kein Schaf, und woher ist uns jetzt dieses Lämmchen zugelaufen? Nun wird sie ganz wach: Aber wie ist es denn in die Stube gekommen? In der gestrigen Hast haben wir also vergessen, das Hoftor zu schließen, Gott sei Dank, daß nur ein Lämmchen hereingesprungen und nicht der Hofhund in das Heiligtum eingedrungen ist. Und nun beginnt sie Luka zu wecken: »Kirillytsch«, ruft sie, »Kirillytsch, steh schnell auf! Unsere Tür ist offen, und irgendein Jungtier ist zu uns in die Hütte gesprungen.« Aber zum Unheil schläft Luka Kirillow wie ein Toter. Und wie ihn auch Michailiza zu wecken versucht, es will ihr auf keine Weise gelingen. Luka brummt nur und sagt kein Wort. Michailiza schüttelt ihn stärker, aber er brummt nur noch lauter. Sie beginnt ihn zu bitten: »Gedenk des Namen Jesu!« Aber kaum hat sie das Wort ausgesprochen, als in der Stube etwas winselt, und in dem Augenblick springt Luka vom Bett auf, stürzt nach vorne und prallt plötzlich mitten in der Stube wie vor einer ehernen Wand zurück. »Mach Licht, Weib, mach schneller Licht!« ruft er Michailiza zu, er selbst aber rührt sich nicht von der[32] Stelle Sie zündet eine Kerze an und läuft herzu, aber er ist bleich wie ein zum Tode Verurteilter und bebt, daß das Kreuz an seinem Hals, ja selbst die Fußlappen an seinen Füßen zittern. Die Frau spricht wieder zu ihm: »Ernährer, was hast du?« sagt sie. Er aber zeigt mit dem Finger, daß dort, wo der Engel war, eine leere Stelle ist und daß der Engel selbst vor Lukas Fuße auf dem Boden liegt.
Luka Kirillow geht jetzt unverzüglich zum alten Maroi und sagt ihm, wie alles gewesen sei, was seine Frau gesehen habe und was bei uns geschehen war: »Komm und schau!« Maroi kommt, kniet vor dem auf der Erde liegenden Engel nieder und bleibt vor ihm lange unbeweglich, wie ein marmornes Grabbild liegen, dann hebt er aber die Hand, streicht sich über die Tonsur auf dem Scheitel und sagt leise:
»Bringt zwölf reine, neugebrannte Ziegelplatten her!«
Luka Kirillow bringt sie sogleich, Maroi schaut sie an und sieht, daß sie alle rein sind und gerade aus dem Brennofen kommen, und er befiehlt Luka, eine auf die andere zu legen und so eine Art Säule aufzuführen, diese mit einem reinen Handtuch zu bedecken und darauf das Heiligenbild zu legen. Dann verneigt sich Maroi bis zur Erde, und ruft:
»Engel Gottes, streu deine Spuren aus, wohin du willst!«
Er hat diese Worte kaum ausgesprochen, als an der Türe geklopft wird und eine unbekannte Stimme ruft:
»He, ihr Altgläubigen, wer ist euer Ältester?«
Luka Kirillow öffnet die Tür und sieht einen Soldaten mit einer Medaille vor sich stehen.
Luka fragt, was für einen Ältesten er wolle. Und der antwortet:[33]
»Den, der oft zur Gnädigen kam und den sie Pimen nennen.«
Luka schickt seine Frau gleich zu Pimen und fragt weiter, worum es sich handle und wer ihn in der Nacht nach Pimen gesandt habe.
Der Soldat sagt:
»Etwas Gewisses weiß ich nicht, aber ich habe so etwas gehört, als ob die Juden dort eine schlimme Geschichte mit unserem Herrn angestellt hätten!«
Aber was es eigentlich sei, kann er nicht erzählen.
»Ich habe gehört,« sagt er, »daß der Herr erst sie versiegelt hätte und dann sie ihn.«
Aber darüber, wie sie einander versiegelt haben, weiß er nichts verständliches zu erzählen.
Währenddes war Pimen gekommen; er schielt selbst wie ein Jude, bald dorthin, bald dahin, und weiß sichtlich selbst nicht, was er sagen soll. Und Luka spricht ihn an:
»Was hast du da gemacht, Spielmann? Geh jetzt und spiel dein Stück nur zu Ende!«
Der setzt sich mit dem Soldaten ins Boot, und sie fahren ab.
Nach einer Stunde kommt unser Pimen zurück, stellt sich munter, aber man sieht, daß es ihm durchaus nicht so zumute ist.
Luka fragt ihn:
»Sprich,« sagt er, »du Windbeutel, und sag ganz aufrichtig, was du dort getan hast.«
Aber jener erwidert: »Nichts«.
Nun, bei dem Nichts blieb es, obwohl es durchaus kein Nichts gewesen war.
Buchempfehlung
Julian, ein schöner Knabe ohne Geist, wird nach dem Tod seiner Mutter von seinem Vater in eine Jesuitenschule geschickt, wo er den Demütigungen des Pater Le Tellier hilflos ausgeliefert ist und schließlich an den Folgen unmäßiger Körperstrafen zugrunde geht.
48 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.
456 Seiten, 16.80 Euro