V

[22] Nun blieben wir beide unter vier Augen zurück und fuhren im Trab nach Moskau; hinter uns jagte aber mit Geschrei und Geklapper das ganze unübersehbare Heer der Droschken. Ich konnte gar nicht begreifen, was sie von uns wollten, der Onkel aber hatte es gleich erraten. Es war eigentlich empörend: um von ihm noch mehr Geld zu erpressen, gaben sie ihm unter dem Vorwande einer besonderen Ehrung das Geleite und lieferten ihn auf diese Weise dem allgemeinen Spott aus.

Moskau lag vor unseren Blicken in herrlicher Morgenbeleuchtung, von leichten Rauchwölkchen aus den Kaminen und von friedlichem Glockengeläute umschwebt.

Rechts und links vom Schlagbaum zogen sich Warenspeicher hin. Der Onkel ließ vor dem ersten Speicher halten, zeigte auf ein Fäßchen, das an der Schwelle stand, und fragte:

»Ist's Honig?«

»Honig.«

»Was kostet das Fäßchen?«

»Wir verkaufen nur pfundweise.«

»Rechne aus, was das kostet.«

Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wieviel[22] man dafür verlangte. Ich glaube siebzig oder achtzig Rubel.

Der Onkel zählte das Geld ab.

Das Droschkenheer hatte uns inzwischen eingeholt.

»Habt ihr mich lieb, ihr städtischen Droschkenkutscher?«

»Gewiß! Wir sind immer bereit, Euer Gnaden zu dienen.«

»Seid ihr mir ergeben?«

»Mit Leib und Seele.«

»Nehmt die Räder ab!«

Die Kutscher stehen verständnislos da.

»Macht es schnell!« kommandiert der Onkel.

An die zwanzig Kutscher, die flinker als die anderen sind, holen unter den Sitzen ihre Schraubschlüssel hervor und beginnen die Räder abzunehmen.

»Gut so,« sagt der Onkel, »und jetzt schmiert die Räder mit Honig.«

»Väterchen!«

»Schmiert!«

»Das kostbare Gut ... So was nimmt man doch lieber in den Mund!«

»Schmiert!«

Ohne auf seinem Wunsche noch weiter zu bestehen, setzte er sich wieder in den Wagen, und wir rasten davon. Die Droschkenkutscher blieben jedoch sämtlich mit den abgeschraubten Rädern beim Honig, mit dem sie aber ihre Räder gar nicht schmierten: sie verteilten ihn wohl unter sich oder verkauften ihn weiter an den nächsten Krämer. Jedenfalls waren wir sie los. Wir fuhren ins Bad. Hier erwartete ich das Jüngste Gericht: ich saß mehr[23] tot als lebendig in der Marmorwanne, während der Onkel in einer seltsamen apokalyptischen Pose auf dem Boden lag. Die ganze Masse seines schweren Körpers ruhte nur auf den Spitzen der Finger und der Zehen. Der rote Körper bebte auf diesen Stützpunkten unter der kalten Dusche, und er brüllte dabei dumpf wie ein Bär, der sich einen Dorn aus der Tatze herausziehen will. Das dauerte eine halbe Stunde, und er zitterte ununterbrochen, wie ein Gelee auf schwankendem Tisch. Plötzlich sprang er auf, ließ sich Kwas geben, wir kleideten uns an und fuhren auf die Schmiedebrücke zum »Franzosen«.

Wir ließen uns hier die Haare stutzen, kräuseln und frisieren und begaben uns dann zu Fuß durch die innere Stadt ins Geschäft.

Der Onkel sprach mit mir noch immer nicht, ließ mich aber nicht los. Nur einmal wandte er sich an mich:

»Wart, nicht alles auf einmal: wenn du jetzt etwas nicht verstehst, so wirst du es mit den Jahren verstehen.«

Im Geschäft verrichtete er zunächst das Morgengebet, vergewisserte sich, ob alles in Ordnung sei und stellte sich vor das Schreibpult. Das Gefäß war von außen gereinigt, aber innen noch voller Greuel und lechzte nach Läuterung.

Ich sah es und hatte keine Angst mehr. Die Sache interessierte mich; ich wollte sehen, wie er nun mit sich selbst fertig würde, wie er das Läuterungswerk machte: ob durch Enthaltsamkeit oder durch irgendeine andere göttliche Gnade?

Gegen zehn Uhr morgens litt es ihn nicht mehr im Geschäft. Er wartete immer auf seinen Nachbarn, um mit ihm ins nächste Wirtshaus zum Teetrinken zu gehen:[24] wenn man den Tee zu dritt trinkt, kommt er um ganze fünf Kopeken billiger. Der Nachbar kam aber nicht; er war eines plötzlichen Todes gestorben.

Der Onkel bekreuzigte sich und sagte:

»Wir alle werden sterben.«

Der plötzliche Tod des Nachbarn brachte ihn aber nicht aus der Fassung, obwohl er mit ihm seit vierzig Jahren täglich im gleichen Wirtshause Tee getrunken hatte.

Er ließ den Nachbarn von der anderen Seite bitten, und wir gingen ins Wirtshaus, aßen und tranken, nahmen aber keine Spirituosen zu uns. Den ganzen Tag verbrachte ich mit ihm, teils im Geschäft und teils auf der Straße. Gegen Abend ließ er den Wagen anspannen, und wir fuhren zur »Allgepriesenen«.

Man kannte ihn hier gut und empfing ihn mit der gleichen Ehrfurcht wie beim ›Jar‹.

»Ich will vor der Allgepriesenen niederfallen und über meine Sünden weinen. Dieser da ist aber mein Neffe, der Sohn meiner Schwester.«

»Treten Sie nur ein,« sagten die Klosterfrauen: »Von wem soll die Allgepriesene ein Bußgebet empfangen, wenn nicht von Ihnen, dem größten Wohltäter ihres Klosters? Jetzt ist just die Stunde der Gnade: eben wird die Abendmesse gelesen.«

»Soll nur die Messe zu Ende gehen; ich will, daß keine Leute dabei sind und daß man mir in der Kirche eine gnadenvolle Dämmerung macht.«

Man machte ihm die Dämmerung: man löschte alle Lampen bis auf eine oder zwei aus und ließ auch die große grüne Glasampel vor dem Gnadenbilde brennen.[25]

Der Onkel fiel nicht, sondern stürzte auf die Knie, berührte mit der Stirne den Boden, schluchzte auf und erstarrte.

Ich saß mit zwei Klosterfrauen in einer dunklen Ecke hinter der Türe. Der Onkel lag lange Zeit unbeweglich und ohne einen Ton von sich zu geben. Ich glaubte sogar, daß er eingeschlafen sei und teilte diesen Verdacht einer der Schwestern mit. Die erfahrene Schwester dachte eine Weile nach, schüttelte den Kopf, zündete ein dünnes Lichtchen an, umschloß die Flamme mit der hohlen Hand und schlich sich leise zum Büßenden. Sie ging einmal auf den Fußspitzen um ihn herum, kehrte erregt zu uns zurück und flüsterte:

»Es wirkt ... sogar mit Rückschlag!«

»Woran merken Sie das?«

Sie beugte sich vor, bedeutete mir durch ein Zeichen, dasselbe zu tun und sagte:

»Blicken Sie gerade über die Flamme auf seine Beine.«

»Ja!«

»Sehen Sie nicht das Ringen?«

Ich blicke genauer hin und sehe wirklich eine Bewegung: der Onkel liegt voller Andacht im Gebet, aber ihm zu Füßen regt sich etwas; ich glaube zwei Kater zu sehen, die miteinander ringen: bald hat der eine die Oberhand, bald der andere.

»Schwester,« frage ich, »wie kommen denn die Kater her?«

»Das kommt Ihnen nur so vor, daß es Kater sind. Es sind aber keine Kater, es ist die Versuchung: Sie sehen doch, wie seine Seele als reine Flamme in den Himmel[26] strebt und wie seine Beine sich noch in der Hölle bewegen.«

Nun sehe ich, daß der Onkel mit den Füßen den gestrigen »Trepak« zu Ende tanzt; ob seine Seele aber auch wirklich als reine Flamme in den Himmel strebt?

Kaum hatte ich mir das gedacht, als er, gleichsam als Antwort auf meinen Zweifel, tief aufseufzte und aufschrie:

»Ich erhebe mich nicht, ehe Du mir vergeben hast! Du allein bist heilig, und wir alle sind verdammt!« Und er fing zu schluchzen an.

Er schluchzte so herzerweichend, daß auch wir drei in Tränen ausbrachen: »Herr, erfülle sein Flehen!«

Und wir merken gar nicht, wie er schon neben uns steht und mit frommer Stimme zu mir sagt:

»Komm, wollen wir uns stärken.«

Die Klosterfrauen fragen ihn:

»Hatten Sie auch die Gnade, den Lichtschein zu sehen, Väterchen?«

»Nein,« antwortete er, »den Lichtschein habe ich nicht gesehen, aber diese Gnade ward mir zuteil ...«

Und er ballte die Faust zusammen und hob sie langsam, wie man einen Jungen am Schopf in die Höhe hebt.

»Wurden Sie in die Höhe gehoben?«

»Ja.«

Die Schwester bekreuzigte sich, ich tat dasselbe, der Onkel aber erklärte:

»Jetzt ist mir alles vergeben! Von oben, aus der Mitte der Kuppel streckte sich eine offene Hand nach mir aus, sie faßte mich bei den Haaren und stellte mich auf die Beine ...«[27]

Nun ist er glücklich und nicht mehr verworfen. Er beschenkte königlich das Kloster, in dem er sich dieses Wunder erfleht hatte. Er fühlte wieder »Leben« in sich und schickte meiner Mutter die Mitgift, die sie einst von ihren Eltern zu bekommen hatte. Mich aber führte er in den guten alten Volksglauben ein.

Von nun an erfaßte ich den Geschmack des Volkes für das Fallen und das Sich-Erheben ... Dies nennt man eben »Teufelsaustreibung«. Ich wiederhole aber, daß man sie nur in Moskau allein sehen kann, und das auch nur bei besonderem Glück und besonderer Protektion seitens der ehrwürdigsten Greise.

Quelle:
Ljesskow, Nikolai: Eine Teufelsaustreibung und andere Geschichten. München 1921, S. 22-28.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Hoffmann, E. T. A.

Fantasiestücke in Callots Manier

Fantasiestücke in Callots Manier

Als E.T.A. Hoffmann 1813 in Bamberg Arbeiten des französischen Kupferstechers Jacques Callot sieht, fühlt er sich unmittelbar hingezogen zu diesen »sonderbaren, fantastischen Blättern« und widmet ihrem Schöpfer die einleitende Hommage seiner ersten Buchveröffentlichung, mit der ihm 1814 der Durchbruch als Dichter gelingt. Enthalten sind u.a. diese Erzählungen: Ritter Gluck, Don Juan, Nachricht von den neuesten Schicksalen des Hundes Berganza, Der Magnetiseur, Der goldne Topf, Die Abenteuer der Silvester-Nacht

282 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon