Erster Brief

An den Herrn P.


Schon seit vierzehn Tagen hätte ich Ihnen Ihren Aufsatz von den unglücklichen Dichtern wieder zurück schicken können, weil ich ihn gleich in den ersten Abenden durchgelesen hatte. Allein ich glaubte diese Eilfertigkeit würde nicht gelehrt genug lassen; wenigstens nicht freundschaftlich genug. Denn nicht wahr, entweder Sie hätten gedacht: nun wahrhaftig der muß sehr viel müßige Stunden haben, daß er sich so gleich hat darüber machen können! oder: ja, in der kurzen Zeit mag er auch viel gelesen haben; über alles läuft er doch weg, wie der Hahn über die Kohlen! Die eine Vermutung sowohl als die andre war mir ungelegen; mir, der ich so gerne immer beschäftiget scheinen will; mir, der ich auf nichts aufmerksamer bin, als auf die Geburten meiner Freunde. Ich würde also ganz gewiß Ihr Werk wenigstens noch acht Tage auf meinem Tische haben rasten lassen; doch Sie fordern es selbst zurück, und hier ist es. Nun? aber ohne Beurteilung, werden Sie sagen? Als wenn Sie es nicht schon wüßten, daß ich durchaus über nichts urteilen will. Wollen Sie aber mit so etwas zufrieden sein, das aufs höchste einer Meinung ähnlich sieht, so bin ich zu Ihren Diensten. Sie zeigen eine sehr weitläuftige Belesenheit, die ich sehr hoch schätze, wenn es Ihnen anders nicht viel Mühe gekostet hat, sie zu zeigen. Gott weiß, wo Sie alle die unglücklichen Dichter aufgetrieben haben! Was für tragische Szenen ziehen Sie Ihren Lesern auf! Hier sitzt einer in einer ewigen Finsternis, und sieht das Licht nicht, welches gleich ihm alles belebet; dort schmachtet einer auf einem Lager, das er seit Jahren nicht verlassen. Jener stirbt, fern von seinem Vaterlande und seinen Freunden, unter Barbaren, zu welchen ihn die Empfindlichkeit eines Großen verwiesen; dieser in seiner Vaterstadt, mitten unter den Bewundrern seiner Muse, im Hospitale. Dort sehe ich einen – welche Erniedrigung für euch[267] ihr Musen! – – am Galgen; und hier einen, gegen welches der Galgen noch ein Kinderspiel ist, mit einem Teufel vom Weibe verheiratet. Die moralischen Züge welche Sie mit unterstreuen sind gut; ich hätte aber gewünscht, daß sie häufiger wären, daß sie aus Ihren Erzählungen ungezwungener flössen, und in einem minder schulmäßigen Tone dahertönten. Auch das gefällt mir nicht, daß Sie keine Klassen unter den unglücklichen Dichtern machen. Diejenigen, welche so zu reden die Natur unglücklich gemacht hat, als die Blinden, gehören eigentlich gar nicht darunter, weil sie unglücklich würden gewesen sein, wenn sie auch keine Dichter geworden wären. Andre haben ihre übeln Eigenschaften unglücklich gemacht, und auch diese sind nicht als unglückliche Dichter, sondern als Bösewichter, oder wenigstens als Toren anzusehen. Die einzigen, die diesen Namen verdienen, sind diejenigen, welche eine unschuldige Ausübung der Dichtkunst, oder eine allzueifrige Beschäftigung mit derselben, die uns gemeiniglich zu allen andern Verrichtungen ungeschickt läßt, ihr Glück zu machen verhindert hat. Und in diesem Verstande ist ihre Anzahl sehr klein. Ja sie wird noch kleiner, wenn man ihr vorgebliches Unglück in der Nähe mit gesunden Augen, und nicht in einer ungewissen Ferne, durch das Vergrößerungsglas ihrer eigenen mit allen Figuren angefüllten Klagen betrachtet. Ist es nicht ärgerlich, wenn man einen Saint Amant, einen Neukirch, einen Günther so bitter, so ausschweifend, so verzweifelnd über ihre, in Vergleichung andrer, noch sehr erträgliche Armut wimmern hört? Und sie, die Armut, ist sie denn etwa nur das Schicksal der Dichter und nicht viel mehr auch aller andern Gelehrten? So viel Sie mir arme Dichter nennen können, eben so viel will ich Ihnen arme Weltweise, arme Ärzte, arme Sternkundige etc. nennen. Aus diesem Gesichtspunkte also, mein Herr, betrachten Sie, wann ich Ihnen raten soll, Ihre Materie etwas aufmerksamer, und vielleicht finden Sie zuletzt, daß Sie ganz unrecht getan haben, ich weiß nicht was für einen gewissen Stern zu erdichten, der sich ein Vergnügen daraus macht, die Säuglinge der Musen zu tyrannisieren. – – – Sind Sie meiner Erinnerungen bald satt? Doch, noch eine. Ich finde, daß Sie in Ihrem Verzeichnis[268] einen Mann ausgelassen haben, der vor zwanzig andern eine Stelle darinne verdienet; den armen Simon Lemnius. Sie kennen ihn doch wohl? Ich bin etc.

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 3, München 1970 ff., S. 267-269.
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