[272] Den 29sten Mai, 1767
In dem Romane hat St. Preux doch noch dann und wann Gelegenheit, seinen aufgeklärten Verstand zu zeigen, und die tätige Rolle des rechtschaffenen Mannes zu spielen. Aber Siegmund in der Komödie ist weiter nichts, als ein kleiner eingebildeter Pedant, der aus seiner Schwachheit eine Tugend macht, und sich sehr beleidiget findet, daß man seinem zärtlichen Herzchen nicht durchgängig will Gerechtigkeit widerfahren lassen. Seine ganze Wirksamkeit läuft auf ein Paar mächtige Torheiten heraus. Das Bürschchen will sich schlagen und erstechen.
Der Verfasser hat es selbst empfunden, daß sein Siegmund nicht in genugsamer Handlung erscheinet; aber er glaubt, diesem Einwurfe dadurch vorzubeugen, wenn er zu erwägen gibt: »daß ein Mensch seines gleichen, in einer Zeit von vier und zwanzig Stunden, nicht wie ein König, dem alle Augenblicke Gelegenheiten dazu darbieten, große Handlungen verrichten könne. Man müsse zum voraus annehmen, daß er ein rechtschaffener Mann sei, wie er beschrieben werde; und genug, daß Julie, ihre Mutter, Clarisse, Eduard, lauter rechtschaffene Leute, ihn dafür erkannt hätten.«
Es ist recht wohl gehandelt, wenn man, im gemeinen Leben, in den Charakter anderer kein beleidigendes Mißtrauen setzt; wenn man dem Zeugnisse, das sich ehrliche Leute unter einander erteilen, allen Glauben beimißt. Aber darf uns der dramatische Dichter mit dieser Regel der Billigkeit abspeisen?[272] Gewiß nicht; ob er sich schon sein Geschäft dadurch sehr leicht machen könnte. Wir wollen es auf der Bühne sehen, wer die Menschen sind, und können es nur aus ihren Taten sehen. Das Gute, das wir ihnen, bloß auf anderer Wort, zutrauen sollen, kann uns unmöglich für sie interessieren; es läßt uns völlig gleichgültig, und wenn wir nie die geringste eigene Erfahrung davon erhalten, so hat es sogar eine üble Rückwirkung auf diejenigen, auf deren Treu und Glauben wir es einzig und allein annehmen sollen. Weit gefehlt also, daß wir deswegen, weil Julie, ihre Mutter, Clarisse, Eduard, den Siegmund für den vortrefflichsten, vollkommensten jungen Menschen erklären, ihn auch dafür zu erkennen bereit sein sollten: so fangen wir vielmehr an, in die Einsicht aller dieser Personen ein Mißtrauen zu setzen, wenn wir nie mit unsern eigenen Augen etwas sehen, was ihre günstige Meinung rechtfertiget. Es ist wahr, in vier und zwanzig Stunden kann eine Privatperson nicht viel große Handlungen verrichten. Aber wer verlangt denn große? Auch in den kleinsten kann sich der Charakter schildern; und nur die, welche das meiste Licht auf ihn werfen, sind, nach der poetischen Schätzung, die größten. Wie traf es sich denn indes, daß vier und zwanzig Stunden Zeit genug waren, dem Siegmund zu den zwei äußersten Narrheiten Gelegenheit zu schaffen, die einem Menschen in seinen Umständen nur immer einfallen können? Die Gelegenheiten sind auch darnach; könnte der Verfasser antworten: doch das wird er wohl nicht. Sie möchten aber noch so natürlich herbeigeführet, noch so fein behandelt sein: so würden darum die Narrheiten selbst, die wir ihn zu begehen im Begriffe sehen, ihre üble Wirkung auf unsere Idee von dem jungen stürmischen Scheinweisen, nicht verlieren. Daß er schlecht handele, sehen wir: daß er gut handeln könne, hören wir nur, und nicht einmal in Beispielen, sondern in den allgemeinsten schwankendsten Ausdrücken.
Die Härte, mit der Julien von ihrem Vater begegnet wird, da sie einen andern von ihm zum Gemahle nehmen soll, als den ihr Herz gewählet hatte, wird beim Rousseau nur kaum berührt. Herr Heufeld hatte den Mut, uns eine ganze Szene[273] davon zu zeigen. Ich liebe es, wenn ein junger Dichter etwas wagt. Er läßt den Vater die Tochter zu Boden stoßen. Ich war um die Ausführung dieser Aktion besorgt. Aber vergebens; unsere Schauspieler hatten sie so wohl konzertieret; es ward, von Seiten des Vaters und der Tochter, so viel Anstand dabei beobachtet, und dieser Anstand tat der Wahrheit so wenig Abbruch, daß ich mir gestehen mußte, diesen Akteurs könne man so etwas anvertrauen, oder keinen. Herr Heufeld verlangt, daß, wenn Julie von ihrer Mutter aufgehoben wird, sich in ihrem Gesichte Blut zeigen soll. Es kann ihm lieb sein, daß dieses unterlassen worden. Die Pantomime muß nie bis zu dem Ekelhaften getrieben werden. Gut, wenn in solchen Fällen die erhitzte Einbildungskraft Blut zu sehen glaubt; aber das Auge muß es nicht wirklich sehen.
Die darauf folgende Szene ist die hervorragendste des ganzen Stückes. Sie gehört dem Rousseau. Ich weiß selbst nicht, welcher Unwille sich in die Empfindung des Pathetischen mischet, wenn wir einen Vater seine Tochter fußfällig um etwas bitten sehen. Es beleidiget, es kränket uns, denjenigen so erniedriget zu erblicken, dem die Natur so heilige Rechte übertragen hat. Dem Rousseau muß man diesen außerordentlichen Hebel verzeihen; die Masse ist zu groß, die er in Bewegung setzen soll. Da keine Gründe bei Julien anschlagen wollen; da ihr Herz in der Verfassung ist, daß es sich durch die äußerste Strenge in seinem Entschlusse nur noch mehr befestigen würde: so konnte sie nur durch die plötzliche Überraschung der unerwartesten Begegnung erschüttert, und in einer Art von Betäubung umgelenket werden. Die Geliebte sollte sich in die Tochter, verführerische Zärtlichkeit in blinden Gehorsam verwandeln; da Rousseau kein Mittel sahe, der Natur diese Veränderung abzugewinnen, so mußte er sich entschließen, ihr sie abzunötigen, oder, wenn man will, abzustehlen. Auf keine andere Weise konnten wir es Julien in der Folge vergeben, daß sie den inbrünstigsten Liebhaber dem kältesten Ehemanne aufgeopfert habe. Aber da diese Aufopferung in der Komödie nicht erfolget; da es nicht die Tochter, sondern der Vater ist, der endlich nachgibt: hätte Herr Heufeld die Wendung nicht ein wenig lindern[274] sollen, durch die Rousseau bloß das Befremdliche jener Aufopferung rechtfertigen, und das Ungewöhnliche derselben vor dem Vorwurfe des Unnatürlichen in Sicherheit setzen wollte? – Doch Kritik, und kein Ende! Wenn Herr Heufeld das getan hätte, so würden wir um eine Szene gekommen sein, die, wenn sie schon nicht so recht in das Ganze passen will, doch sehr kräftig ist; er würde uns ein hohes Licht in seiner Kopie vermalt haben, von dem man zwar nicht eigentlich weiß, wo es herkömmt, das aber eine treffliche Wirkung tut. Die Art, mit der Herr Eckhof diese Szene ausführte, die Aktion, mit der er einen Teil der grauen Haare vors Auge brachte, bei welchen er die Tochter beschwor; wären es allein wert gewesen, eine kleine Unschicklichkeit zu begehen, die vielleicht niemanden, als dem kalten Kunstrichter, bei Zergliederung des Planes merklich wird.
Das Nachspiel dieses Abends war, der Schatz; die Nachahmung des Plautinschen Trinummus, in welcher der Verfasser alle die komischen Szenen seines Originals in einen Aufzug zu konzentrieren gesucht hat. Er ward sehr wohl gespielt. Die Akteurs alle wußten ihre Rollen mit der Fertigkeit, die zu dem Niedrigkomischen so notwendig erfodert wird. Wenn ein halbschieriger Einfall, eine Unbesonnenheit, ein Wortspiel, langsam und stotternd vorgebracht wird; wenn sich die Personen auf Armseligkeiten, die weiter nichts als den Mund in Falten setzen sollen, noch erst viel besinnen: so ist die Langeweile unvermeidlich. Possen müssen Schlag auf Schlag gesagt werden, und der Zuhörer muß keinen Augenblick Zeit haben, zu untersuchen, wie witzig oder unwitzig sie sind. Es sind keine Frauenzimmer in diesem Stücke; das einzige, welches noch anzubringen gewesen wäre, würde eine frostige Liebhaberin sein; und freilich lieber keines, als so eines. Sonst möchte ich es niemanden raten, sich dieser Besonderheit zu befleißigen. Wir sind zu sehr an die Untermengung beider Geschlechter gewöhnet, als daß wir bei gänzlicher Vermissung des reizendern, nicht etwas Leeres empfinden sollten.
Unter den Italienern hat ehedem Cecchi, und neuerlich unter den Franzosen Destouches, das nämliche Lustspiel des[275] Plautus wieder auf die Bühne gebracht. Sie haben beide große Stücke von fünf Aufzügen daraus gemacht, und sind daher genötiget gewesen, den Plan des Römers mit eignen Erfindungen zu erweitern. Das vom Cecchi heißt, die Mitgift, und wird vom Riccoboni, in seiner Geschichte des italienischen Theaters, als eines von den besten alten Lustspielen desselben empfohlen. Das vom Destouches führt den Titel, der verborgne Schatz, und ward ein einzigesmal, im Jahre 1745, auf der italienischen Bühne zu Paris, und auch dieses einzigemal nicht ganz bis zu Ende, aufgeführet. Es fand keinen Beifall, und ist erst nach dem Tode des Verfassers, und also verschiedene Jahre später, als der deutsche Schatz, im Drucke erschienen. Plautus selbst ist nicht der erste Erfinder dieses so glücklichen, und von mehrern mit so vieler Nacheifrung bearbeiteten Stoffes gewesen; sondern Philemon, bei dem es eben die simple Aufschrift hatte, zu der es im Deutschen wieder zurückgeführet worden. Plautus hatte seine ganz eigne Manier, in Benennung seiner Stücke; und meistenteils nahm er sie von dem allerunerheblichsten Umstande her. Dieses z.E. nennte er Trinummus, den Dreiling; weil der Sykophant einen Dreiling für seine Mühe bekam.
Ausgewählte Ausgaben von
Hamburgische Dramaturgie
|
Buchempfehlung
Die keusche Olympia wendet sich ab von dem allzu ungestümen jungen Spanier Cardenio, der wiederum tröstet sich mit der leichter zu habenden Celinde, nachdem er ihren Liebhaber aus dem Wege räumt. Doch erträgt er nicht, dass Olympia auf Lysanders Werben eingeht und beschließt, sich an ihm zu rächen. Verhängnisvoll und leidenschaftlich kommt alles ganz anders. Ungewöhnlich für die Zeit läßt Gryphius Figuren niederen Standes auftreten und bedient sich einer eher volkstümlichen Sprache. »Cardenio und Celinde« sind in diesem Sinne Vorläufer des »bürgerlichen Trauerspiels«.
68 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro