Genard, L'ecole de l'homme

[151] Bald wird in Frankreich die Profession eines Sittenlehrers die Profession eines Wagehalses werden. Schon wieder eine Moral die man in Paris verbrannt hat! Hier ist der Titel: [François Genard:] L'ecole de l'homme ou Parallele des portraits du siecle et[151] des tableaux de l'Ecriture sainte. Ouvrage moral, critique et anedotique en III Tomes, in 8. Der Verfasser hat sich seine glücklichen Vorgänger in moralischen Schilderungen nicht abschrecken lassen. Auch nach einem Bruyere, Claville und Panage glaubt er etwas neues sagen zu können. Ihre Werke, behauptet er, hätten bloß die Kraft einen artigen Mann, oder aufs höchste einen ehrlichen Mann zu bilden; er aber wolle, nebst diesen, einen Christen zu bilden suchen. Und in der Tat, darinne geht er von allen jetztlebenden französischen Witzlingen ab; er zeigt es auf allen Seiten, daß er Religion habe, daß er sie seinen Lesern einzuflößen suche, daß er überführet sei, nur sie gäbe allen guten Eigenschaften den wahren Wert, nur durch sie allein könne man ein rechtschaffener Vater, ein rechtschaffener Sohn, ein rechtschaffner Ehemann, ein rechtschaffner Freund, ja sogar ein rechtschaffner Liebhaber sein. Und das Werk eines solchen Schriftstellers, wird man sagen, ist verbrannt worden? Nicht allein; man hat sogar den Verfasser, welcher ein Soldat unter der königlichen Garde, Namens Gesnard, sein soll, ins Gefängnis gesetzt, wo er sein Schicksal zu erwarten hat. Warum hat er mit aller Gewalt ein Lucil werden wollen, von welchem Horaz sagt:


Primores populi rapuit, populumque tributim,

Scilicet uni aequus virtuti atque ejus amicis.


Eine Menge satyrischer Schilderungen, in welchen man beinahe den ganzen parisischen Hof, und wer weiß was noch für hohe Häupter finden will, sind die Ursache seines Unglücks. Aber soll denn ein Sittenlehrer nicht nach dem Leben schildern? Sollen denn alle seine Gemälde ohne Ähnlichkeit sein? Und wann er auch niemanden zu treffen Willens hat, so darf er nur die aller grotesquesten Figuren von Narren auf das Papier werfen, und die Anwendung dem Leser überlassen; er wird gewisse Personen vor den Augen müssen gehabt haben, wann er das Gegenteil auch beschwören wollte. Derjenige also hätte das Unglück des Verfassers verdient, welcher seinem Werke einen Schlüssel beigefügt hat, welcher der Verleumdung vielleicht die Geheimnisse aufschließen soll, wo der Verfasser keine wissen will. Unterdessen wird er gewiß[152] mehr Leser anlocken, als es die strenge Moral des Verfassers würde getan haben. Kostet in den Vossischen Buchläden 16 Gr.[153]

Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 3, München 1970 ff., S. 151-154.
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