Fünfter Auftritt

[90] Norton. Mellefont. Sara. Betty.


MELLEFONT. Du kömmst schon wieder, Norton? Recht gut! Du wirst hier nötiger sein.

NORTON. Marwood ist fort – –

MELLEFONT. Und meine Flüche eilen ihr nach! – Sie ist fort? – Wohin? – Unglück und Tod, und wo möglich, die ganze Hölle möge sich auf ihrem Wege finden! Verzehrend Feuer donnre der Himmel auf sie herab, und unter ihr breche die Erde ein, der weiblichen Ungeheuer größtes zu verschlingen! – –

NORTON. So bald sie in ihre Wohnung zurück gekommen, hat sie sich mit Arabellen und ihrem Mädchen in den Wagen geworfen, und die Pferde mit verhängtem Zügel davon eilen lassen. Dieser versiegelte Zettel ist von ihr an Sie zurück geblieben.[90]

MELLEFONT indem er den Zettel nimmt. Er ist an mich. – – Soll ich ihn lesen, Miß?

SARA. Wenn Sie ruhiger sein werden, Mellefont.

MELLEFONT. Ruhiger? Kann ich es werden, ehe ich mich an Marwood gerächet, und Sie, teuerste Miß, außer Gefahr weiß?

SARA. Lassen Sie mich nichts von Rache hören. Die Rache ist nicht unser! – Sie erbrechen ihn doch? – Ach, Mellefont, warum sind wir zu gewissen Tugenden bei einem gesunden und seine Kräfte fühlenden Körper weniger, als bei einem siechen und abgematteten aufgelegt? Wie sauer werden Ihnen Gelassenheit und Sanftmut, und wie unnatürlich scheint mir des Affekts ungeduldige Hitze! – – Behalten Sie den Inhalt nur für sich.

MELLEFONT. Was ist es für ein Geist, der mich Ihnen ungehorsam zu sein zwinget? Ich erbrach ihn wider Willen, – wider Willen muß ich ihn lesen.

SARA indem Mellefont für sich lieset. Wie schlau weiß sich der Mensch zu trennen, und aus seinen Leidenschaften ein von sich unterschiedenes Wesen zu machen, dem er alles zur Last legen könne, was er bei kaltem Blute selbst nicht billiget – Mein Salz, Betty! Ich besorge einen neuen Schreck, und werde es nötig haben. – Siehst du, was der unglückliche Zettel für einen Eindruck auf ihn macht! – Mellefont! – Sie geraten außer sich! – Mellefont! – Gott! er erstarrt! – Hier, Betty! Reiche ihm das Salz! – Er hat es nötiger, als ich.

MELLEFONT der die Betty damit zurück stößt. Nicht näher, Unglückliche! – Deine Arzeneien sind Gift! –

SARA. Was sagen Sie? – Besinnen Sie sich! – Sie verkennen sie!

BETTY. Ich bin Betty, nehmen Sie doch.

MELLEFONT. Wünsche dir, Elende, daß du es nicht wärest! – Eile! fliehe! ehe du in Ermanglung des schuldigern, das schuldige Opfer meiner Wut wirst!

SARA. Was für Reden! – Mellefont, liebster Mellefont – –

MELLEFONT. Das letzte liebster Mellefont aus diesem göttlichen Munde, und dann ewig nicht mehr! – Zu Ihren Füßen, Sara – – Indem er sich niederwirft. – – Aber was will ich zu Ihren Füßen? Und wieder aufspringt. Entdecken? Ich[91] Ihnen entdecken? – Ja, ich will Ihnen entdecken, Miß, daß Sie mich hassen werden, daß Sie mich hassen müssen. – Sie sollen den Inhalt nicht erfahren; nein von mir nicht! – Aber Sie werden ihn erfahren. – Sie werden – Was steht ihr noch hier, müßig und angeheftet? Lauf Norton, bring' alle Ärzte zusammen! Suche Hülfe, Betty! Laß die Hülfe so wirksam sein, als deinen Irrtum! – Nein! bleibt hier! Ich gehe selbst. –

SARA. Wohin, Mellefont? Nach was für Hülfe? Von welchem Irrtume reden Sie?

MELLEFONT. Göttliche Hülfe, Sara; oder unmenschliche Rache! – Sie sind verloren, liebste Miß! Auch ich bin verloren! – Daß die Welt mit uns verloren wäre! –


Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 2, München 1970 ff., S. 90-92.
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