Zwölfter Auftritt


[700] Zwei Bediente, nach einander, von verschiedenen Seiten über den Saal laufend. Die Vorigen.


DER EINE BEDIENTE. Gnädiges Fräulein, Ihro Exzellenz, der Graf! –

DER ANDERE BEDIENTE. Er kömmt, gnädiges Fräulein! –

FRANZISKA die ans Fenster gelaufen. Er ist es! er ist es!

DAS FRÄULEIN. Ist ers? – O nun geschwind, Tellheim –

VON TELLHEIM auf einmal zu sich selbst kommend. Wer? wer kömmt? Ihr Oheim, Fräulein? dieser grausame Oheim? Lassen Sie ihn nur kommen; lassen Sie ihn nur kommen! – Fürchten Sie nichts! Er soll Sie mit keinem Blicke beleidigen dürfen! Er hat es mit mir zu tun. – Zwar verdienen Sie es um mich nicht –

DAS FRÄULEIN. Geschwind umarmen Sie mich, Tellheim, und vergessen Sie alles –

VON TELLHEIM. Ha, wenn ich wüßte, daß Sie es bereuen könnten! –

DAS FRÄULEIN. Nein, ich kann es nicht bereuen, mir den Anblick Ihres ganzen Herzens verschafft zu haben! – Ah, was[700] sind Sie für ein Mann! – Um armen Sie Ihre Minna, Ihre glückliche Minna! aber durch nichts glücklicher, als durch Sie! Sie fällt ihm in die Arme. Und nun, ihm entgegen! –

VON TELLHEIM. Wem entgegen?

DAS FRÄULEIN. Dem besten Ihrer unbekannten Freunde.

VON TELLHEIM. Wie?

DAS FRÄULEIN. Dem Grafen, meinem Oheim, meinem Vater, Ihrem Vater – – Meine Flucht, sein Unwille, meine Enterbung; – hören Sie denn nicht, daß alles erdichtet ist? Leichtgläubiger Ritter!

VON TELLHEIM. Erdichtet? Aber der Ring? der Ring?

DAS FRÄULEIN. Wo haben Sie den Ring, den ich Ihnen zurückgegeben?

VON TELLHEIM. Sie nehmen ihn wieder? – O, so bin ich glücklich! – Hier Minna! – Ihn herausziehend.

DAS FRÄULEIN. So besehen Sie ihn doch erst! – O über die Blinden, die nicht sehen wollen! – Welcher Ring ist es denn? Den ich von Ihnen habe, oder den Sie von mir? – Ist es denn nicht eben der, den ich in den Händen des Wirts nicht lassen wollen?

VON TELLHEIM. Gott! was seh ich? was hör ich?

DAS FRÄULEIN. Soll ich ihn nun wieder nehmen? soll ich? – Geben Sie her, geben Sie her! Reißt ihn ihm aus der Hand, und steckt ihn ihm selbst an den Finger. Nun? ist alles richtig?

VON TELLHEIM. Wo bin ich? – Ihre Hand küssend. O boshafter Engel! – mich so zu quälen!

DAS FRÄULEIN. Dieses zur Probe, mein lieber Gemahl, daß Sie mir nie einen Streich spielen sollen, ohne daß ich Ihnen nicht gleich darauf wieder einen spiele. – Denken Sie, daß Sie mich nicht auch gequälet hatten?

VON TELLHEIM. O Komödiantinnen, ich hätte euch doch kennen sollen!

FRANZISKA. Nein, wahrhaftig; ich bin zur Komödiantin verdorben. Ich habe gezittert und gebebt, und mir mit der Hand das Maul zuhalten müssen.

DAS FRÄULEIN. Leicht ist mir meine Rolle auch nicht geworden. Aber so kommen Sie doch![701]

VON TELLHEIM. Noch kann ich mich nicht erholen. – Wie wohl, wie ängstlich ist mir! So erwacht man plötzlich aus einem schreckhaften Traume!

DAS FRÄULEIN. Wir zaudern. – Ich höre ihn schon.


Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 1, München 1970 ff., S. 700-702.
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