Erster Auftritt


[262] Szene: in Nathans Hause.

Recha und Daja.


RECHA.

Wie, Daja, drückte sich mein Vater aus?

»Ich dürf' ihn jeden Augenblick erwarten?«

Das klingt – nicht wahr? – als ob er noch so bald

Erscheinen werde. – Wie viel Augenblicke

Sind aber schon vorbei! – Ah nun: wer denkt

An die verflossenen? – Ich will allein

In jedem nächsten Augenblicke leben.

Er wird doch einmal kommen, der ihn bringt.

DAJA.

O der verwünschten Botschaft von dem Sultan!

Denn Nathan hätte sicher ohne sie

Ihn gleich mit hergebracht.

RECHA.

Und wenn er nun

Gekommen dieser Augenblick; wenn denn

Nun meiner Wünsche wärmster, innigster

Erfüllet ist: was dann? – was dann?

DAJA.

Was dann?

Dann hoff' ich, daß auch meiner Wünsche wärmster

Soll in Erfüllung gehen.

RECHA.

Was wird dann

In meiner Brust an dessen Stelle treten,

Die schon verlernt, ohn einen herrschenden

Wunsch aller Wünsche sich zu dehnen? – Nichts?

Ah, ich erschrecke! ...

DAJA.

Mein, mein Wunsch wird dann

An des erfüllten Stelle treten; meiner.

Mein Wunsch, dich in Europa, dich in Händen

Zu wissen, welche deiner würdig sind.[262]

RECHA.

Du irrst. – Was diesen Wunsch zu deinem macht,

Das nämliche verhindert, daß er meiner

Je werden kann. Dich zieht dein Vaterland:

Und meines, meines sollte mich nicht halten?

Ein Bild der Deinen, das in deiner Seele

Noch nicht verloschen, sollte mehr vermögen,

Als die ich sehn, und greifen kann, und hören,

Die Meinen?

DAJA.

Sperre dich, so viel du willst!

Des Himmels Wege sind des Himmels Wege.

Und wenn es nun dein Retter selber wäre,

Durch den sein Gott, für den er kämpft, dich in

Das Land, dich zu dem Volke führen wollte,

Für welche du geboren wurdest?

RECHA.

Daja!

Was sprichst du da nun wieder, liebe Daja!

Du hast doch wahrlich deine sonderbaren

Begriffe! »Sein, sein Gott! für den er kämpft!«

Wem eignet Gott? was ist das für ein Gott,

Der einem Menschen eignet? der für sich

Muß kämpfen lassen? – Und wie weiß

Man denn, für welchen Erdkloß man geboren,

Wenn mans für den nicht ist, auf welchem man

Geboren? – Wenn mein Vater dich so hörte! –

Was tat er dir, mir immer nur mein Glück

So weit von ihm als möglich vorzuspiegeln?

Was tat er dir, den Samen der Vernunft,

Den er so rein in meine Seele streute,

Mit deines Landes Unkraut oder Blumen

So gern zu mischen? – Liebe, liebe Daja,

Er will nun deine bunten Blumen nicht

Auf meinem Boden! – Und ich muß dir sagen,

Ich selber fühle meinen Boden, wenn

Sie noch so schön ihn kleiden, so entkräftet,

So ausgezehrt durch deine Blumen; fühle

In ihrem Dufte, sauersüßem Dufte,

Mich so betäubt, so schwindelnd! – Dein Gehirn

Ist dessen mehr gewohnt. Ich tadle drum[263]

Die stärkern Nerven nicht, die ihn vertragen.

Nur schlägt er mir nicht zu; und schon dein Engel,

Wie wenig fehlte, daß er mich zur Närrin

Gemacht? – Noch schäm' ich mich vor meinem Vater

Der Posse!

DAJA.

Posse! – Als ob der Verstand

Nur hier zu Hause wäre! Posse! Posse!

Wenn ich nur reden dürfte!

RECHA.

Darfst du nicht?

Wenn war ich nicht ganz Ohr, so oft es dir

Gefiel, von deinen Glaubenshelden mich

Zu unterhalten? Hab' ich ihren Taten

Nicht stets Bewunderung; und ihren Leiden

Nicht immer Tränen gern gezollt? Ihr Glaube

Schien freilich mir das Heldenmäßigste

An ihnen nie. Doch so viel tröstender

War mir die Lehre, daß Ergebenheit

In Gott von unserm Wähnen über Gott

So ganz und gar nicht abhängt. – Liebe Daja,

Das hat mein Vater uns so oft gesagt;

Darüber hast du selbst mit ihm so oft

Dich einverstanden: warum untergräbst

Du denn allein, was du mit ihm zugleich

Gebauet? – Liebe Daja, das ist kein

Gespräch, womit wir unserm Freund' am besten

Entgegen sehn. Für mich zwar, ja! Denn mir,

Mir liegt daran unendlich, ob auch er ...

Horch, Daja! – Kommt es nicht an unsre Türe?

Wenn Er es wäre! horch![264]


Quelle:
Gotthold Ephraim Lessing: Werke. Band 2, München 1970 ff., S. 262-265.
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