Vierundzwanzigstes Kapitel

[401] Mit einer Menge von neuen Vorstellungen, von neuen Bekanntschaften und Eindrücken bereichert, verließ ich Baden. Mein nächstes Verweilen sollte Interlaken sein, und dort, in der Mitte dieser eben so lieblichen als großartigen Natur, sah ich, unserer Verabredung gemäß, Therese von Bacheracht zum ersten Male wieder.

Ich hatte mich in einer Schweizerpension in Unterseen einquartirt, sie wohnte in der großen Allee von Interlaken; aber das hinderte uns nicht, uns alltäglich zu sehen, viel beieinander zu sein und uns näher zu treten, bis wir uns zu einer Freundschaft verbanden, die bis an das Lebensende der geliebten Frau gedauert hat, und die ich als eines der höchsten Güter erachte, welche mir im Leben zu Theil geworden sind.

Wir wußten im Ganzen noch recht wenig von einander, als wir uns in der Schweiz zusammenfanden. Therese hatte ein paar Bücher von mir, ich ein paar Bücher von ihr gelesen, und wir hatten uns ein paar Mal gesprochen. Unsere Vergangenheit hatte nichts Gemeinsames, unsere Stellung im Leben war sehr verschieden, unsere Ueberzeugungen waren es fast noch mehr. Woher uns der lebhafte Zug der Neigung gekommen, die uns von dem ersten Begegnen ab zu einander geführt hat,[401] das würde doch am Ende kaum zu erklären sein, wäre Therese nicht so schön, so ungewöhnlich anziehend gewesen, und hätte ich eine weniger große Empfänglichkeit für Schönheit gehabt.

Es waren zuerst ihre äußeren Vorzüge, die mich an sie fesselten. Es machte mir so großes Vergnügen, sie anzusehen, ihre Bewegungen zu betrachten, ihre liebliche Stimme und die heitere kluge Anmuth ihres Wortes zu vernehmen. Dann gewannen ihre unvergleichliche Güte und Freundlichkeit mir das Herz, und doch hatte ich schon manche Tage neben ihr gelebt, ohne viel daran zu denken, wie klug sie sei, wie fein sie beobachtete, und wie sie oft geistvoll und eigenthümlich auszudrücken wußte, was sie gedacht hatte.

Weil sie vollkommen anders war als ich, und weil sie mir doch so sehr gefiel, trat mein ganzes eigenes Ich vor ihrer Betrachtung zurück, und ich glaube, ich habe eben deshalb das Bild keines andern Menschen objektiver in mir aufgenommen, als das ihre. Ich wurde anfangs still und ruhig vor ihr, wie vor einem Kunstwerk, und ich hatte dabei fortwährend den Wunsch: wenn du doch wärest wie sie! – Ich begehrte damit nicht ihre Schönheit, ich dachte auch natürlich nicht daran, es ihr nachzumachen, wie sie ging und stand, aber ich sah mit Bewunderung, daß sie alle ihre Anlagen vollständig zu einem Ganzen durchgebildet hatte, so daß Nichts, aber auch Nichts, störsam an ihr auffiel. Was ihr Betrachten in mir anregte, war nur das Verlangen nach dieser Selbsterziehung und Selbstbeobachtung, die aus sich zu machen strebt, was die persönlichen Anlagen eben verstatten. Es sollte Jeder, weit mehr als man es leider thut, danach trachten, den Ring zu finden, der die geheimnißvolle Kraft[402] besitzt, »vor Gott und Menschen angenehm zu machen«; denn die Macht des Guten und Wahren wird größer, wenn sie sich in gefälliger Form offenbart, und wer auf diese Weise auf Andere eine förderliche Wirkung auszuüben lernt, der wird durch das wohlthuende Bewußtsein, auf seine Umgebung einen günstigen Eindruck hervorzubringen, in der Regel nur immer schöner, besser und milder.

Sah man Therese in der Welt, in der Gesellschaft, in ihrem Hause, so hatte sie stets die gleiche sanfte Miene, stets die gleiche Achtsamkeit für Andere, immer das gleiche Bestreben, ihnen angenehm zu sein. Einen Dienst leisten, eine Gefälligkeit erzeigen, helfen zu können, war für Therese ein Genuß; und sie war erfinderisch in der Möglichkeit, sich diese Genugthuung für ihr Herz zu schaffen. Denn mitten in dem Luxus, mitten in den Vorzügen, welche ihre äußeren Lebensverhältnisse ihr darboten, war jene Befriedigung, welche die fremde Zufriedenheit ihr bereitete, die einzige reine Freude, deren sie theilhaftig wurde.

Wie ich die Schönheit ihres Wesens anstaunte und mich daran erfreute, so betrachtete sie mit einer Art von Erstaunen mein bisheriges Dasein und Leben. Sie wunderte sich, das ich äußerlich nicht mehr erlebt, daß ich eine Menge von Ansichten und Erkenntnissen nur durch ein divinatorisches Erfassen und Zusammenstellen fremder Erfahrungen gewonnen hatte, und sie pries mich deshalb oftmals glücklich, denn all ihr Erleben hatte ihr kein Glück geboten.

Ein Lebensschicksal wie das ihre, war mir ein fremdes, eine Frau wie sie hatte ich noch nicht nahe gekannt, aber mit jedem Tage, den wir miteinander verlebten, wurde sie mir lieber und werther. An einem Nachmittage hatten wir einen langen Spaziergang gemacht und[403] beschlossen, als die Sonne schon im Sinken war, noch auf den Hügel zu steigen, der die schönste Aussicht nach der Jungfrau bietet, und auf welchem sich jetzt die Pension zum Jungfrauenblick erhebt. Im Jahre fünfundvierzig war die Höhe aber noch unbebaut, und der Pfad, welcher aus dem Dorfe hinaufführte, war nicht so geebnet und so bequem als jetzt.

Es war schon ziemlich spät, als wir auf dem Platz anlangten und wir trafen Niemand auf demselben an. Der Tag war heiß, in dem Gehölz, durch das wir emporstiegen, hatte die Wärme den Duft der Gräser und der Bäume entwickelt, daß man ihn mit Entzücken athmete und die Frische und Leichtigkeit der Luft doppelt genoß. Tief im Baumesschatten sitzend, sahen wir eine der schönsten Matten, von Laubwald umschlossen, sich in saftig vollem Grün vor unseren Füßen in das Thal hinabsenken, während zwischen und über den beiden gewaltigen Bergzügen, die sich rechts und links erhoben und fast regelmäßig gegen das Thal abdachten, die Jungfrau vor unsern Augen dalag, mit ihren funkelnden und blendenden Schneemassen hoch emporragend gegen das tiefe Himmelsblau.

Wir saßen lange schweigend, in Betrachtung dieser Herrlichkeit versunken. Die Sonne ging unter. Wie gebannt hingen unsere Blicke an der Purpurgluth, welche den Schnee färbte, und die immer tiefer und immer flammender wurde, bis sie den Höhepunkt ihrer Kraft erreicht hatte, und nun bleicher und bleicher zu werden begann, ein hinschwindendes Leben. Langsam zog der rothe Schimmer sich zurück, aber er sank nicht, er stieg empor. Immer weiter griff das röthliche Violet der unteren Bergesschichten um sich, immer mehr Raum gewann[404] die bläuliche Dunkelheit, bis nur noch die beiden letzten Spitzen des Berges ihren Strahlenglanz bewahrten und endlich auch dieser erlosch, und todt und farblos sich die Massen des ewigen Schnees in ihrem kalten Blauweiß gegen den sich röthenden Hintergrund des Himmels abhoben.

Es war das erste Alpenglühen, das ich sah, und die Schönheit dieses Naturschauspieles ergriff mich außerordentlich. Ich hatte unwillkürlich Theresen's Hand erfaßt, und hielt sie fest.

»Wenn Sie wüßten, Fanny!« sagte sie, »wie gut ich Ihnen in den wenigen Tagen geworden bin!«

»Ich liebe Sie auch sehr!« entgegnete ich.

»Wer weiß«, versetzte sie darauf, »ob Sie mir das sagen würden, wenn Sie mich besser kennten. Mein Leben ist ein sehr bewegtes gewesen. Vieles würde Ihnen unbegreiflich darin scheinen, Manches würden Sie gewiß mißbilligen.«

»So erzählen Sie es mir nicht!« fiel ich ihr in die Rede. »Mein Leben kennen Sie ganz und gar, Ihr gegenwärtiges Schicksal kenne ich auch. Sie haben Zutrauen zu mir, ich habe es zu Ihnen, wir wollen fortan kein Geheimniß vor einander haben, das ist ja genug! Aber lassen Sie ein für allemal Alles zwischen uns begraben sein, was Ihnen aus Ihrer Vergangenheit eine schmerzliche Erinnerung, und wie Sie sagen, mir keine Freude machen würde. Ich will's nicht wissen.«

Sie sah mich betroffen an. »Soll das ein Wort sein?« fragte sie mich.

»Ein festes Wort!« betheuerte ich.

Sie fing heftig zu weinen an, und fiel mir um den Hals. Als ich, nicht weniger erschüttert, sie endlich beruhigt hatte, sagte sie mit ihrer sanften Stimme: »So hat noch Niemand an mich geglaubt! Sie wissen nicht, was Sie[405] mir mit diesem Glauben thun und sind. Aber ich verspreche es Ihnen, Sie sollen sich in mir nicht betrogen haben.«

Wir blieben auf der Höhe, bis es dunkel wurde. Es war so still, daß man die Cikaden schwirren hörte. Aus der Ferne tönten die Glocken weidender Ziegenheerden leise zu uns herüber. Als der Nebel sich von der Matte zu erheben und weiß schimmernd den untern Theil des Hügels zu umziehen begann, stiegen wir in das Thal hinab und kehrten in unsere Behausungen zurück. Ich in mein kleines Schweizer Bauernhaus, Therese in den Salon ihres Hôtels, in welchem sich eben damals eine große Gesellschaft aus den diplomatischen und Adelskreisen zusammengefunden hatte.

Der Abend hatte mich sehr reich gemacht. Ich hatte eine Freundin gewonnen, wie ich niemals eine besessen hatte, wie ich nie wieder eine finden werde.

Sieben Jahre lang haben wir Alles, Leid und Kummer, Sorge, Genugthuung, Freude und Glück treulich mit einander getragen und getheilt. Was Einer dem Andern irgend sein und leisten konnte, das ist er ihm gewesen, das hat er ihm geleistet, und als ich Therese dann verlor, konnte ich mir den einzigen Trost zusprechen, den es an dem Grabe eines geliebten Men schen giebt: ich hatte sie sehr geliebt.

Es ist meine Lebensgeschichte, die ich hier schreibe, nicht die ihre; ich habe hier also nur darzulegen, was Therese mir gewesen ist. Von ihr zu sprechen, ihr Bild zu geben, behalte ich mir vor. Es soll der Kranz sein, den ich einmal auf ihren Hügel lege.[406]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 3, Berlin 1871, S. 401-407.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Meine Lebensgeschichte
Meine Lebensgeschichte (1; V. 3); Von Fanny Lewald
Meine Lebensgeschichte (2-3); Von Fanny Lewald
Meine Lebensgeschichte (1)

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Die Narrenburg

Die Narrenburg

Der junge Naturforscher Heinrich stößt beim Sammeln von Steinen und Pflanzen auf eine verlassene Burg, die in der Gegend als Narrenburg bekannt ist, weil das zuletzt dort ansässige Geschlecht derer von Scharnast sich im Zank getrennt und die Burg aufgegeben hat. Heinrich verliebt sich in Anna, die Tochter seines Wirtes und findet Gefallen an der Gegend.

82 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon