Vierzehntes Kapitel

[250] Im Sommer dieses Jahres ließ sich in Königsberg ein Schnellläufer sehen. Meine Eltern erzählten uns, wie in früheren Jahren alle vornehmen Herrschaften vor ihren Karossen Läufer gehabt hätten, die ihnen vorangeeilt wären; und während mein Vater diesen alle Menschlichkeit verspottenden Luxus tadelte, wurde doch beschlossen, daß wir den Schnelllauf mit ansehen sollten, um einen Begriff von der dem Menschen möglichen Schnelligkeit zu bekommen.

Wir waren zu dem Zwecke auf einem Stellwagen nach einem Gasthof auf dem Below'schen Gute Kalgen gefahren, der an der Chaussee und ungefähr auf der Hälfte des Weges gelegen war, welchen der Läufer zurücklegen sollte. Draußen vor dem Gasthof war Alles voll von Menschen aller Stände, und da die Studenten sich in Königsberg damals überall sehr bemerklich machten, so waren auch an dem Tage ihrer eine Anzahl zu Pferde und zu Wagen in Kalgen anwesend.

Es währte denn auch nicht lange, bis von der Stadtseite her einige Offiziere herangesprengt kamen, welche den Läufer zu Pferde begleiteten, und zwischen ihnen wurde ein mittelgroßer, magerer junger Mann sichtbar, der in einem[250] flatternden Pagenanzug von verblichenem blaßblauem und weißem Atlas, pfeilschnell vorüberrannte, während der Wind die hohen Federn auf seinem Barett hin und her jagte. Ich hatte mit den Andern und mit Mathilde, die bei solchen Anlässen immer mit uns war, unten vor der Thüre des Gasthofes gestanden, und war, als der Ruf der Menge die Ankunft des Läufers verkündete, auf den etwa zwei Fuß hohen Sockel einer der hölzernen Säulen gestiegen, welche den Balkon vor dem oberen Stockwerk stützten. Kaum aber befand ich mich auf der geringen Erhöhung, als aus dem Kreise der dabei stehenden Studenten sich Einer umwendete, und, nach mir hinsehend, zu seinem Gefährten sagte: hat das Mädchen schöne Augen! wird die hübsch werden!

Ich rutschte von meinem Piedestal herunter, denn mir flammte das Gesicht, aber nicht vor Schaam, sondern vor unaussprechlichem Vergnügen. Der Läufer hätte noch zehnmal an mir vorüberjagen können, sie hätten – mein Vater und ein anderer Herr – noch viel lebhafter darüber sprechen können, ob es Recht sei oder nicht, solche Produktionen, wie den Schnelllauf zuzulassen, da sich doch immer Menschen fänden, die mit ähnlichen Dingen ihr Brod verdienen wollten, es war mir in dem Augenblicke äußerst gleichgültig! Die Gewißheit, daß Jemand mich hübsch fand, die Möglichkeit, daß ich noch hübscher werden könnte, machten mich gar zu glücklich. Als Kind hatte man mich in der Schule wegen meiner Blässe und Magerkeit geneckt, und neben Mathilde war ich selbst mir immer so unschön erschienen, daß ich mich allmählich, wenn auch mit schwerem Herzen, dazu beschieden,[251] durch geistige Eigenschaften gefallen zu müssen, während ich in diesem Zeitpunkte gar kein lebhafteres Verlangen kannte, als groß, schlank und schön zu sein, wie ich mir die Heldinnen aller Dichtungen vorstellte, wie ich es je zu werden auch nicht die geringste Aussicht hatte.

Der junge Student, welcher mir damals diese Freudenbotschaft verkündete, und der jetzt, ein anerkannt tüchtiger Mann, im fernen Masuren auf seinem Gute lebt, hat sicherlich nie eine Ahnung davon gehabt, welche Wohlthat er mir an jenem Nachmittage mit seinem Ausrufe erwies. Er war mir ein Befreier von der Pedanterie, welche sich aus meinen, auf das Ernste gerichteten Anlagen in mir zu entwickeln drohte. Eine Bibliothek von Büchern hätte ich an dem Nachmittage hingegeben für einen Strohhut, der mich gut gekleidet hätte, und all mein bischen Wissen für das Vergnügen, es noch einmal aussprechen zu hören, daß ich hübsch werden könne.

Die Stimmung blieb nun auch die vorherrschende in mir, und machte mich sehr heiter. Zum Lernen hatte ich keinen so ausschließlichen Trieb mehr, ich wollte nur gefallen, und statt des wissenschaftlichen Ehrgeizes, den ich als Kind gehegt, statt der Sehnsucht nach einem Doktortitel und einem Lehrstuhl in Bologna, hatte ich jetzt nur den einen Wunsch, bald möglichst in die Welt zu kommen, das hieß auf einen Ball zu gehen, oder eigentlich, recht bald Befriedigung für diese neu erwachte Eitelkeit zu finden. An einen Ball aber war für mich noch nicht zu denken, denn mein Vater hatte es festgesetzt, daß ich in diesem Jahre noch keinen Ball besuchen sollte, und das um so weniger, als sich mir allmählich ein Umgangskreis[252] eröffnet hatte, der mir Vergnügungen mancher Art bereitete, und mir genugsam Gelegenheit bot, mit Mädchen und mit jungen Männern zusammenzukommen, deren Besuche auch in unserm Hause nicht fehlten.

Noch während ich in die Schule ging, hatte ich die Kinder der angesehensten jüdischen Familie von Königsberg, der Familie Oppenheim, kennen lernen. Das Haupt derselben, der alte Banquier Oppenheim, lebte mit seiner Gattin, einer sehr schönen Matrone, in einem ansehnlichen und für die damalige Mode prächtig eingerichteten Hause, in der Kneiphöfischen Langgasse, grade über dem Hause, welches meine Großeltern mütterlicher Seits sechsunddreißig Jahre inne gehabt hatten. Die älteste Tochter, an einen Herrn Friedländer verheirathet, wohnte mit ihren Söhnen und Töchtern in dem Hause ihrer Eltern. Zwei andre Töchter, die Eine an einen Banquier Warschauer, die Andre an einen Consul Schwarz verheirathet, und der einzige Sohn der Familie, der eine sehr schöne und liebenswürdige Frau hatte, waren Alle in Königsberg in großem Wohlstande ansässig, und bildeten einen Familienkreis und eine Geselligkeit, wie sie mir nicht häufig wieder begegnet sind.

Die Frauen waren in demselben, wie das damals in den jüdischen Familien häufig der Fall zu sein pflegte, den Männern an Bildung weit überlegen, und dabei zum Theil Meisterinnen der geselligen Form. Da das Haus weit verzweigte Handelsverbindungen hatte, kamen fortwährend Fremde in dasselbe, alle bedeutenden Künstler, welche Königsberg besuchten, wurden dorthin empfohlen, und weil die Frauen angenehm, und die Gastfreiheit der[253] Familie sehr groß war, so suchten auch manche der Beamten und Gelehrten der Stadt die Bekanntschaft derselben auf, während die christliche Kaufmannsaristokratie sich in ihrem Judenhasse damals von der Oppenheim'schen Familie ebenso fern, als von allen andern Juden hielt. Nur zu den Bällen der christlichen jungen Kaufmannschaft, und zu den andern Bällen, welche die Kaufmannsaristokratie, die Beamten und der Adel gemeinsam veranstalteten, zu den sogenannten Corporations- und zu den Combinationsbällen, ließ man die Oppenheim'sche und vielleicht noch eine oder zwei andre reiche Judenfamilien zu – ein Vorzug, den ich ihnen damals sehr beneidete, obschon er nur den Ausspruch Lessings bewahrheitete: der reichere Jude war Euch stets der Bessere!

In allen den vier Familien, welche die Kinder des alten Banquier Oppenheim gegründet hatten, gab es tüchtige junge Gelehrte als Hauslehrer, und überall auch französische Gouvernanten. Die dritte Generation war in ihrem Alter sehr verschieden. Der älteste Enkelsohn hatte schon den Feldzug von achtzehnhundertfünfzehn, als siebenzehnjähriger Jüngling mitgemacht, ein Bruder und eine sehr geistvolle und liebenswürdige Schwester standen ihm in Jahren nahe, und um diese drei jungen Personen zunächst bewegte sich eine ganze Schaar jüngern Volkes, die theils ein Paar Jahre älter als ich, theils gleichaltrig mit mir oder auch jünger waren. Mittwoch und Sonnabend Abends, und Sonntag den ganzen Tag über, waren alle Stämme der Familie, bis auf die jüngsten Kinder hinab, im Vaterhause versammelt. Die Hauslehrer und Gouvernanten, die Privatlehrer, die Freunde der[254] verschiedenen Söhne, Töchter und Enkel, und eine Anzahl Fremder fehlten dann selten, und es war an solchen Tagen wirklich originell, durch das Haus zu gehen, und nachzusehen, wie die verschiedenen Genossenschaften sich die Zeit vertrieben, wie die alte Frau Oppenheim in ihrem nach altem Schnitte gemachten seidenen Oberrock, mit ihrer Spitzenhaube und ihrem weißen Perlenschmuck, mit schwarzseidenen Schuhen und weißseidenen Strümpfen, die sie selbst als Greisin auch im kältesten Winter trug, durch die Zimmer ging, und leise, mit dem Kopfe zitternd, überall nach dem Rechten sah.

Oben in des Großvaters Stube, der Winters tief in den Filzstiefeln des Podagristen steckte, spielten einige alte Leute ihre Partie, in dem Zimmer der einen Enkelin las man gesellschaftlich, und in den großen Hinterstuben trieben wir Jüngern unser Wesen, spielten wir als Kinder mit unsern Puppen, spielten wir später sogenannte jeux d'esprit, oder tanzten wir mit unsern männlichen Altersgenossen, seit wir der Kinderspiele müde geworden waren. Ich habe sehr frohe Stunden und Tage in diesem Kreise verlebt.

Im Sommer zogen die sämmtlichen Familien nach einem großen Landsitz, nahe vor der Stadt, nach Karlsruh hinaus, dessen Gärten drei, vier Häuser und Häuschen umschlossen. Man mußte also zusammenrücken, man wohnte enge, und da die Gastfreiheit im Sommer in noch größerem Umfange geübt wurde als in der Stadt, so konnten wir Jungen uns kein fröhlicheres Leben wünschen, als es sich uns in dem Landsitze eröffnete, auf dem ich mitunter ein Paar Wochen ganz als Gast verweilte.[255]

Bei einem dieser längern Besuche sah ich zum er sten Male die Schröder-Devrient, und sie war zugleich die erste Bühnenkünstlerin, der ich außerhalb des Theaters begegnete. Ich denke, es muß achtzehnhundertsechs- oder siebenundzwanzig gewesen sein, und sie konnte somit nicht viel über zwanzig Jahre zählen. Ich hatte sie ein paar Tage vorher, unter dem Schutze meines Onkels, der damals Theaterarzt war, als Emmeline in der Schweizerfamilie gehört, und mit dem ganzen Publikum heiße Thränen vergossen, als sie mit unterdrücktem Schluchzen und mit lächelndem Munde, mit bezaubernder Miene, die Arie: »Ich bin ja so fröhlich« gesungen. Wie der Inbegriff aller kindlichen Sanftmuth, aller Güte und Unschuld war sie mir vorgekommen, und ich kannte sie kaum wieder, als ich sie in ihrer blendenden und sieggewissen Schönheit, in dem Kreise der sie bewundernden Männer und Frauen wiedersah. Strahlender in den Farben, vollendeter an Gestalt, und von einnehmenderen Zügen, als es Wilhelmine Devrient damals war, wüßte ich mir keine Frau zu denken. Ihr goldblondes Haar leuchtete förmlich um ihre Stirne, ihre Arme und ihr Hals glänzten aus dem ausgeschnittenen Kleide von weiß und rosa gestreiftem Tafft hervor, und wir jüngern Mädchen standen in der Ferne und sahen ihr wie geblendet, und doch erschrocken zu. Sie gefiel uns gar nicht, weil sie nicht Emmeline war, als welche auch die andern Mädchen sie gesehen hatten, und wir nahmen es ihr übel, daß sie jetzt nicht weinte, daß sie uns jetzt nicht rührte. Wir besaßen noch den vollen Egoismus der Jugend, die es verlangt, daß die Menschen dasjenige sein sollen, was sie[256] an ihnen liebt, was sie an ihnen bewundert. Von Wehmuth und Rührung war aber an der lebensvollen Frau jetzt keine Spur zu finden. Sie erzählte ganze Reihen komischer Geschichten, sie sang zum Clavier Liederchen im Wiener Dialekt, und als irgend Jemand ihr ein Compliment machte über das reizende Grübchen in ihrem Kinn, sagte sie: als Gott mich fertig gemacht hatte, gefiel ich ihm nicht. Da hat er mir mit dem Finger einen Stoß gegen das Kinn gegeben, hat mich auf die Seite geschoben, und gesagt: nun mach' Mädel, daß Du weg kommst, und sieh zu, wie Du Dich durch die Welt schlägst! davon kommt das Grübchen! Es ist ein schlechtes Merkmal, sonst Nichts. Sie lachte dazu, die Gesellschaft fand die kleine Erfindung reizend, aber wir blieben in der Opposition, und als sie dann vollends nach all dem Scherz und Lachen, ganz so unschuldig und rührend wie an den verwichenen Abenden die Emmelinen-Arie sang, da erlitten wir eine Art von Schmerz, denn es wurde uns eine Illusion zerstört; Emmeline hörte auf, uns ein wirklich existirendes Wesen zu sein, und die Künstlerin um der Kunst willen zu bewundern, waren wir noch nicht reif genug. Vielleicht aber sind die Triumphe mit die reinsten, welche die Künstler der Jugend gegenüber erringen, die in ihnen noch wirklich ihre Ideale sieht und liebt, und es ganz vergißt, daß der Künstler auch außerhalb seiner Rolle noch ein Dasein hat.

In dem Oppenheim'schen Hause war es auch, daß ich die Familie des Konsistorialrath Kähler kennen lernte. Er war Professor an der Universität, erster Prediger an der Löbenicht'schen Kirche, Konsistorialrath, und so aufgeklärt[257] und freisinnig, als es für einen Geistlichen irgend möglich, der mit Ueberzeugung sein Amt als Lehrer und Prediger des protestantischen Christenthums verwalten sollte. Ohne Vorurtheile irgend einer Art, von der höchsten allgemeinen Bildung, hatte er, ehe er nach Königsberg kam, sich viele Jahre in einem kleinen Pfarramte mit einer großen Familie durchbringen müssen, und da er ein Mann voll Phantasie und des Wortes durchaus Meister war, hatte er sich in jenen Zeiten als Dichter versucht, und mehrere Romane anonym erscheinen lassen. Zwei derselben: Herrmann von Lobeneck, und Bruder Martin der Mörder, wurden, da man den Verfasser jetzt in Königsberg kannte, viel gelesen; und der bloße Gedanke, daß Konsistorialrath Kähler ein Dichter sei, hätte mir seine ganze Familie anziehend gemacht, wäre sie es nicht schon durch sich selbst gewesen. Denn ich liebte die Dichter und hatte doch nie einen solchen gesehen, mit Ausnahme des unglücklichen, spukhaften Raphael Bock, der meinen Vorstellungen von einem Dichter nicht im Entferntesten entsprach.

Der Vater, die Mutter und alle Kinder des Kählerschen Hauses waren schöne Menschen. Sie hatten, so verschieden sie in ihrem Aeußern waren, alle etwas Leuchtendes in Blick und Teint; und eine ganze Reihe gut gemalter Portraits ihrer verstorbenen Großeltern und Urgroßeltern zeigte eben so schöne Gesichtsbildungen und eben so viel intelligenten Ausdruck. Ein Geist edler Bildung ging durch das ganze Haus. Man lebte reichlich, aber doch ohne allen Luxus, man sah Fremde, gab aber wenig Gesellschaften, und der kluge Sinn der trefflichen Hausfrau wußte die Ansprüche, welche ein weit verzweigter[258] Umgang und die Lebenslust der Kinder machten, auf das Beste mit den etwaigen Bedenken orthodoxer Gemeinde-Mitglieder zu vereinigen, welche von dem Leben einer Predigersfamilie Zurückgezogenheit und Stille forderten. Zwei Söhne und zwei Töchter waren außerhalb Königsberg bereits verheirathet und versorgt, drei Töchter und ein Sohn, der damals Medizin studirte, lebten noch bei den Eltern, und es kamen theils als Freunde des Sohnes, theils als Zuhörer des Vaters, viel junge Männer, wenn auch nur zu kurzen Besuchen, in das Haus.

Dazu war mir noch ein neuer Zuwachs an häuslicher Geselligkeit geworden, als eine uns verschwägerte Familie unser Vorderhaus bezog. Es waren das die Eltern des schon früher von mir erwähnten Eduard Simson, der mir von da ab ein täglicher Umgang wurde. Schon unsere Mütter und Väter waren Jugendfreunde gewesen. Eduard hatte, als seine Eltern unsere Miether wurden, eben mit fünfzehn Jahren sein Studenten-Examen gemacht, und geistvoll und strebsam, wie er es war, fand er eben so viel Freude daran, mir von seinen Collegien und Arbeiten zu sprechen, als mir die Bücher mitzutheilen, die ihn beschäftigten. Er lernte mit Leidenschaft, er lehrte eben so gern, so daß unser Umgang uns Beiden gleich erfreulich und angenehm war, und wie er meiner Lust am Aufnehmen gewiß manche eigene Aufklärung verdankt, so danke ich ihm eine Menge von Anregungen und von vereinzelten Kenntnissen und Belehrungen, die den großen Vortheil für mich hatten, mir, eben weil sie vereinzelt waren, immer neuen Stoff zum Denken zu geben. Auf diese Weise kamen, als Simson die philosophischen[259] Collegia von Herbart besuchte, die ersten philosophischen Begriffe, und in derselben Zeit, ebenfalls durch ihn, einzelne Schriften von Friedrich Jacobs an mich heran, die mir neue Vorstellungen und Bilder aus dem klassischen Alterthume zuführten.

Seit die Familie Simson das nach der Kneiphöfischen Langgasse gelegene Vorderhaus unseres Hauses bezogen hatte, während wir immer noch das Hinterhaus am Kai bewohnten, hatten wir ein Paar Stuben und Kammern des Vorderhauses zu unserer Wohnung mit hinzugenommen, und ich war dadurch aus der Kinderstube, und in den Besitz eines besondern Zimmers gekommen, das ich jedoch mit meiner Schwester theilte. Es war ein sehr finsterer, kalter, völlig sonnenloser Raum, der nur ein Fenster nach dem Hofe, dafür aber drei Thüren hatte, die alle in kalte Kammern führten. Ueber mir – die Stube lag in dem langen, schmalen Zwischengebäude, das eine Straße lang, das Vorderhaus mit dem Hinterhause verband – hatte ich ein flaches Dach, auf dem ein großer Balkon, ein sogenannter Schauer war; unter meiner Stube befand sich einer von meines Vaters Wein-Lagerräumen, dessen Geruch immer in meine Stube drang. Aber der Besitz dieses Zimmers machte mich doch sehr glücklich, und ich trug in dasselbe zusammen, was ich nur an kleinen Zierrathen habhaft werden konnte. Das war freilich nicht viel, und meine eigenen, sehr mittelmäßigen eingerahmten Kreidezeichnungen und meine noch schlechter gemalten Fruchtstücke, die über dem höchst unbequemen Sopha hingen, bildeten die Hauptverschönerung.

War es nun das eigene melancholische Zimmer, das[260] mir solch ein Gefühl von Wichtigkeit gab, oder war es die Lektüre von Rosaliens Nachlaß von Friedrich Jacobs, die mich dazu begeisterte, genug, ich kam ganz plötzlich auf den Gedanken ein Tagebuch zu führen.

Bis dahin hatte ich mich begnügt, mir einzelne Stellen aus den Büchern, welche ich las, auszuschreiben, aber nun befriedigte mich das nicht mehr. Die jungen Mädchen und Männer in dem Jacobs'schen Romane, den ich mit Mathilde zusammen gelesen, hatten mir gar zu gut gefallen. Das sanfte Gemisch von edeln Empfindungen und blaßblauen Schleifen, von Bällen und Religiosität, von Liebe, Schwindsucht und frommer Todesempfindung, war sehr nach meinem Geschmack gewesen, und da man mich in dieser Zeit, Dank einer eben grassirenden Thorheit, systematisch krank gemacht hatte, und ich also wirklich mancherlei Leiden und Beschwerden zu erdulden hatte, so wurde es mir noch leichter, mich in die Stimmung Rosaliens hineinzuphantasiren.

Das hing aber sonderbar genug mit dem Aufsehen zusammen, welches in jenen Tagen die Fortschritte auf dem Gebiete der Orthopädie zu machen angefangen hatten. Bis dahin waren wir Alle, eben so wie unsere Mütter und Großmütter, aufgewachsen, ohne daß man besonders daran gedacht hätte, unser eigentliches körperliches Wachsthum zu überwachen. Wer nicht verwachsen war, galt ohne Weiteres für grade, und ich wüßte auch nicht, daß aus der großen Zahl meiner Alters- und Schulgenossen irgendwie gebrechliche oder verwachsene Frauen hervorgegangen wären. Wir saßen Alle freilich in der Regel mehr als nöthig war, man ließ uns auch ganz unnütze[261] feine Handarbeiten, namentlich viel Stickarbeiten in sogenannten Petit-Points am Rahmen ausführen, und wir selbst hatten den Ehrgeiz, für diese Arbeiten den feinsten weißen Cannevas auszusuchen, wodurch sie die Augen noch mehr anstrengten, und für die Haltung am Stickrahmen noch bedenklicher wurden. Indeß Alles in Allem genommen befanden wir uns, da der Körper sich in der Jugend viel bieten läßt, vortrefflich, als mit einem Male, durch die Zeitungen, oder Gott weiß durch welche Mittheilungen angeregt, sich über unsere Mütter die epidemische Angst vor dem Verwachsen ihrer Kinder zu verbreiten begann.

Daß wir grade gingen und uns nichts Uebles anzusehen war, beruhigte unsere Mütter ganz und gar nicht, und half uns nichts. In allen Familien wurden Haussuchungen nach beginnenden Verkrümmungen gehalten, es war ein wahres Mißgeschick über uns hereingebrochen, und ehe wir es uns versahen, bestanden wir aus lauter Gebrechlichen, und wurden Behufs der mit uns zu beginnenden Kuren dezimirt. Drei Cousinen von mir, die Töchter eines Hauses, kamen in die neuerrichtete Königsberger orthopädische Anstalt, ein Paar Mädchen aus der Oppenheim'schen Familie wurden zu Blömer nach Berlin gebracht, diese und jene von meinen Freundinnen bekamen in ihren Familien fabelhafte Maschinen zu tragen, und wurden Nachts zu Hause auf Streckbetten geschnallt; kurz es schien als könnten unsere Mütter erst zur Ruhe kommen, wenn ihnen irgend ein Arzt die Gewißheit gegeben hatte, daß sie auch so unglücklich wären, angehende Krüppel unter ihren Kindern zu haben.[262]

Ich für meinen Theil hatte so gut wie alle Andern viel gesessen, hatte die Thorheit des Stickens so weit ausgedehnt, auf feinem Linon in Petit-Point zu arbeiten, aber Dank der Sorgfalt meiner Mutter, hatte ich mich immer sehr grade gehalten, und da ich eines der glücklichst organisirten Augen hatte, keine Art von Nachtheil von meinen unnützen und mühseligen Handarbeiten gehabt. Indeß diese Sorgfalt meiner Mutter machte sie auch geneigt, von der orthopädischen Epidemie mit angesteckt zu werden. Sie fing an mich auszukleiden und zu betrachten, und machte dann eines Tages die unglückliche Entdeckung, daß auch ich schief sei. Ihr Bruder, eben unser Onkel Doktor, und ein Medizinalrath Ungher, der Direktor der chirurgischen Klinik, wurden herbeigerufen, ich wurde hin- und hergedreht und gewendet, und es wurde dann endlich festgestellt, daß ich zwar einen tadellosen Knochenbau hätte, daß aber meine rechte Schulter doch stärker sei als die linke, daß ich also täglich eine Weile an einer Art von Reck hängen, täglich eine Stunde auf der harten Diele auf dem Rücken liegen, und alle vierzehn Tage vier bis sechs Blutegel an die verdächtige Schulter gesetzt bekommen solle.

Mein Vater freilich sah das Alles als eine große Thorheit an, indeß dem Urtheil gewiegter Aerzte war nicht zu widersprechen, eine Verantwortung mochte er vielleicht auch nicht übernehmen wollen, genug ich mußte am Reck hängen, wovon ich Blasen und für Jahr und Tag eine harte Haut in den Händen bekam, mußte eine schöne Stunde täglich unnütz an der Erde liegen, was mir Schmerz machte und mich tödtlich langweilte, und[263] nachdem man Jahr und Tag die noch viel unnützeren und mir höchst nachtheiligen Blutentziehungen fortgesetzt hatte, fing man an sich sehr zu wundern, daß ich fortwährend über Kopfschmerzen, über Schwindel und Herzklopfen klagte, die wahrscheinlich nur die nothwendige Folge der Blutentziehungen gewesen sind. Man war aber weit entfernt, sie dafür zu halten, sondern man verordnete mir starke Bewegung – mein Vater ließ mich täglich im Hofe eine halbe Stunde Wasser in die Anker und halben Anker pumpen, die dort zum Spülen lagen – und statt mich ordentlich zu ernähren, weil ich mager geworden war, ließ man mich während der Sommermonate eine rein vegetabilische Kost genießen, um, wie es hieß, mein Blut zu verdünnen.

Daß ich auf diese Weise es glücklich zu einem Ansatz von Bleichsucht und zu sehr feinen Empfindungen brachte, war nur natürlich. Ich war noch leichter als vorher zu rühren, verrieth einen mir bisher ganz fremden Hang zum Elegischen, und dachte viel an meinen Tod. Mathilde, die ein paar Geschwister in unserm Alter verloren hatte, half mir dabei nach besten Kräften, obschon sie wie das Leben selbst aussah, und an ihrer schönen Gestalt keine orthopädischen Strapazen zu erdulden hatte; und was ich von Schwärmerei am Tage mitten in dem Spektakel der Kinder und mitten im Haushalt nicht hatte fertig bekommen können, das vertraute ich Abends beim Schimmer eines spärlichen Talglichtes, in der eiskalten Stube, den verschwiegenen Blättern meines Tagebuches an, das ich, beiläufig bemerkt, der guten Ulrich'schen Schulordnung getreu – hübsch in blaues Deckelpapier eingenäht, und[264] mit dem festgenähten reglementsmäßigen Löschblatt versehen hatte.

Das trieb ich mit großem Selbstgenuß eine ganze Zeit so fort. Fror mich Abends bei dem Schreiben, was in dem kalten Zimmer sehr natürlich war, so »fühlte ich die Schwingen des Todes über mir wehen.« War ich schläfrig und sah ich bei dem spärlichen Lichte schlecht, so »schloß sich mein Auge vor dem trügerischen Schein der Welt.« Kurz jedes Wort, das ich schrieb, war eine leere Phrase oder eine Affektation. Während meine Putzsucht recht groß, mein Hang zum Vergnügen sehr gesund waren, während jede Galanterie, die man mir erzeigte, mir eine wirkliche Genugthuung bereitete, und während ich im Grunde sehr wohl mit mir und meinen Erfolgen zufrieden war, hatte ich, als mir der zweite Herbst in meinem eigenen Zimmer herankam, zwei saubere Quartbücher voll geschmachtet und voll gewinselt, und saß eines Abends wieder da, um »meine Gedanken zu sammeln, ehe sich mein Auge wieder über einem meiner Tage schloß.« Dabei kam ich auf den glücklichen Einfall, einmal im Zusammenhange überschauen zu wollen, was ich erlebt und empfunden hatte. Ich wollte doch wissen, wie meine hinterlassenen Bekenntnisse auf die Ueberlebenden wirken würden, und äußerst gerührt, mit Thränen in den Augen, fing ich an zu lesen, und las und las – und es fiel mir wie Schuppen von den Augen.

Nicht ein Wort war wahr von allem dem, was ich seit fünf Viertel Jahren zusammengeschrieben hatte. Ich hatte von Seelenleiden geredet, die ich gar nicht kannte, von einer Sehnsucht, die ich nie gehegt. Ich war ganz[265] benommen, ganz verdutzt über mich selbst. Ich war mir widerwärtig und lächerlich zugleich. Ich besann mich, was mir denn eigentlich gefehlt habe? Ich hätte mich wirklich gefreut, hätte ich auch nur gefunden, daß ich in irgend Jemand verliebt sei. Aber ich befand mich in dem erwünschtesten Gleichgewichte, und meine Rechtschaffenheit hielt es mir bitter vor, wie unwürdig es sei, sich so mit erborgtem Gefühlsplunder aufzuputzen. Mein Verstand sagte mir dazu, wie undankbar es sei, sich ohne Grund unglücklich zu nennen; und ich kann nicht anders als den Ausdruck brauchen, mit dem ich damals meinen Zustand in mir selbst bezeichnete: ich kam mir wie ein Falschmünzer und im höchsten Grade malhonnette vor. Das war ein Wort, welches mein Vater für solche Unredlichkeiten brauchte, und ich hatte, nun ich mich einmal auf mich selbst besonnen, auch nicht eher Ruhe, bis das letzte Wort dieser Lügenchronik im Ofenfeuer verkohlt war.

Damit endeten meine Selbstbespiegelungen ein für alle Mal, und ich hatte gegen allen Selbstbetrug eine solche Abneigung bekommen, daß ich nie wieder ein regelmäßiges Tagebuch geführt habe. Schrieb ich später hie und da einmal eine Notiz für mich auf, so war es, um mir die Erinnerung an etwas, das ich gelesen hatte, an eine augenblickliche Lage, oder auch, um mir eine Bemerkung über Dritte festzuhalten, und selbst diese fast sachlichen Aufzeichnungen begann ich erst wieder im Jahre achtzehnhundert vierunddreißig, als ich zum dreiundzwanzigsten Geburtstage von einem meiner Verwandten ein Tagebuch geschenkt bekam, und meiner innern Wahrhaftigkeit ziemlich sicher sein durfte.[266]

Ich habe aber aus dieser an mir selbst gemachten Erfahrung das Bedenkliche der Tagebücher für junge Personen erkennen lernen, und eigentlich, so oft mir regelmäßig geführte Tagebücher von Mädchen oder Frauen zu Gesichte kamen, immer die Bemerkung gemacht, daß sie unwahr und ein Unsegen für ihre Besitzerinnen waren. Das Leben der meisten Frauenzimmer ist einförmig, ihr Gedankenkreis in der Regel sehr beschränkt, und ihr Sinn daher auf das Kleinleben in ihrer Nähe gerichtet, das möglichst einfach und leicht genommen werden muß, wenn es erfreulich und vernünftig fortentwickelt werden soll. Hat man sich aber einmal vorgenommen, täglich Etwas aufzuschreiben, fängt man erst an, in sich hineinzublicken und auf die Andern zu achten, um etwas Besonderes zu finden, so gewöhnt man sich bald, das, was man einfach als seine Obliegenheit zu thun hat, als eine Pflichterfüllung, das, was die Andern uns Angenehmes oder Widerwärtiges bereiten, auch als äußerst bedeutende Dinge anzusehen, und es kommt dann regelmäßig darauf hinaus, daß sich sehr gewöhnliche Frauenzimmer in den allergewöhnlichsten Lagen zu unverstandenen Seelen und edlen Dulderinnen hinaufschwindeln. Ein frohes, fröhliches, gesundes Frauentagebuch ist mir nie vorgekommen; sie waren alle nichts nutz, und wie das meine zu nichts Weiterm gut, als den Ofen damit zu heizen. Mütter, die ihre Kinder zu ähnlichen Aufzeichnungen anhalten, begehen daher nach meiner Ueberzeugung einen großen Fehler, während es der Jugend und den Frauen sehr heilsam ist, sich Excerpte des Gelesenen zu machen, und so ihren geringen Gedankenvorrath mit den Gedanken[267] großer und reifer Denker zu erweitern und zu bereichern.

Für mich war es eine eigene Erfahrung, daß mir, so oft ich mich innerlich auf einem falschen Wege befand, jedesmal die Worte einfielen, welche unser früherer Lehrer Herr Motherby bei dem Abgang aus der Schule mir in das Stammbuch geschrieben hatte. Sein Zuruf: tâcher de défaire notre esprit de l'erreur et notre coeur de l'égoisme, voilà la grande tâche de notre vie, voilà le but de toute éducation; de cette éducation de nous même, qui commence quand nos instituteurs nous quittent, quand la main de ceux qui ont veillé sur notre enfance ne nous guide plus! – ist mir oft, sehr oft im Leben ernsthaft mahnend in den Sinn gekommen, und ich habe dieser Sentenz vielmal ernstes Inmichgehen und große innere Fortschritte zu danken gehabt.[268]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 1, Berlin 1871, S. 250-269.
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