Sechszehntes Kapitel

[281] In dieser Zeit war es, daß ich die Bekanntschaft eines jungen Mannes machte, der auf meine nächsten Jahre und auf meine Entwicklung überhaupt, einen großen Einfluß gewann. Ich hatte eine Tanzstunde mit fünf von den jungen Mädchen aus der Oppenheim'schen Familie und zwei von den Töchtern des Konsistorialrath Kähler. Unsere Tänzer waren, mit Ausnahme eines jungen Auskultators, Studenten, und da die Stunden nur einmal in der Woche, und zwar in den verschiedenen Häusern der Oppenheim'schen Familie gehalten wurden, waren es immer kleine Tanzgesellschaften, zu denen nach den Stunden sich die Gäste einstellten, und die man uns durch allerlei Veranstaltungen noch zu beleben und noch angenehmer zu machen wußte. Man stellte lebende Bilder auf, man improvisirte Sprichwörter und führte im Laufe des Winters auch drei- oder viermal Lustspiele auf, bei denen die Theilnehmer der Tanzstunde und einige der ältern Mädchen und Männer der Oppenheim'schen Familie die Schauspieler machten. Ich selbst hatte an diesem Komödienspielen gar keinen Theil, weil mein Vater mir dergleichen Verkleidungen und Schaustellungen nicht gestattete. Ich mußte, weil meine Mutter den Winter[281] leidend und der Stille wegen zu mir in meine Stube gezogen war, auch in der Regel früher als die Uebrigen die Gesellschaft verlassen, aber das Alles störte mich in meinem Vergnügen nicht. Die Tanzstunden waren der Gedanke meiner Tage und so sehr der Traum meiner Nächte, daß ich im Schlafe davon sprach und meiner Mutter dadurch oft beschwerlich fiel.

Gegen das Frühjahr hin, als die Stunden sich ihrem Ende näherten, gab man in dem Kähler'schen Hause eine Gesellschaft, in welcher unser froher Kreis noch einmal zusammenkommen sollte. Es waren Freunde des Sohnes, der auch Student und einer unserer Tänzer gewesen war, Freundinnen der Töchter, einige Verwandte des Hauses und einige von den jungen Männern geladen, welche die Collegia des Konsistorialraths besuchten, so daß die Anzahl der Personen, welche ich nicht kannte, recht groß war. Da man in dem Hause nicht tanzte, wurden Spiele gespielt, und der Abend verging uns, weil der ganze Ton in der Familie ein geistig gehobener war, sehr angenehm. Ich hatte Mathilden, die nicht mit dabei gewesen war, am andern Tage viel zu berichten und erzählte ihr, daß, als ich bei dem Fortgehen in den Wagen meiner Freundinnen eingestiegen sei, ein großer junger Mann den Bedienten fortgeschoben habe, um mir hineinzuhelfen. Sie fragte mich, wer es gewesen sei, ich wußte aber seinen Namen nicht.

Einige Tage darauf besuchte mich eine der Kähler'schen Töchter, eines der lieblichsten Geschöpfe, das man sich denken konnte. Ihr goldblonder Lockenkopf, ihre hellblauen Augen gaben ihr bei einer starkgebogenen, kühnen[282] Nase und dem blendendsten Teint einen unwiderstehlichen Reiz, und ihre große Lebendigkeit ließ sie, da sie klein war, leicht wie ein Vogel erscheinen. Sie kam lachend zu mir in das Zimmer, und kaum befanden wir uns allein, als sie mich in ihrer fröhlichen Weise fragte: Du! hast Du nicht Lust zu heirathen? –

Ich sah sie verwundert an, obschon man an ihr, sie war auch nur siebenzehn Jahre, und also nur ein Jahr älter als ich, alle Arten von Uebermuth gewohnt war; aber sie nahm eine ernsthafte Miene an und sagte: nein! ich scherze nicht. Du hast doch unsern Verwandten, den Leopold Bock gesehen? Der hat fest erklärt, er werde Dich heirathen, oder nie eine Andere, und das ist Einer, der hält Wort. Du weißt nun, wonach Du Dich zu richten hast!

Wir lachten Beide immer auf's Neue darüber, und amüsirten uns vortrefflich damit. Es wurde besprochen, daß Leopold in den nächsten Tagen sein theologisches Lizentiatenexamen machen würde, daß er Hauslehrer in einer Kaufmannsfamilie sei, und am meisten erlustigten wir uns mit dem Witze meiner Freundin, daß ich als seine Frau ihn niemals würde »unterfassen« können, weil ich viel zu klein sei, ihm auch nur bis an den Arm zu reichen. Wir behandelten den Gegenstand nicht anders, als wir fünf, sechs Jahre vorher beim Spielen unsere erfundenen Familien-Verhältnisse behandelt hatten, denn wir waren im Grunde unseres Wesens doch noch halbe Kinder, trotz der mancherlei Dinge, die wir gelernt hatten, und trotz der ernsten Gedanken, die wir zu denken vermochten, wenn wir dazu angeregt wurden;[283] und ich meine, es ist gut, daß es so war. Es lassen sich in dem Entwickelungsgange eines Menschen keine Stufen ungestraft überspringen, es will Alles gelernt und entfaltet sein, am meisten aber die Kraft der Liebe. Denn was man von der Gewalt der ersten Liebe in den Herzen sehr junger Personen spricht, davon habe ich niemals einen Beweis erlebt, obschon solche jugendliche Zuneigungen bisweilen zu ganz glücklichen Ehebündnissen führen. Daß aber unfertige Menschen nicht in sich die höchste Blüthe ihrer Natur, eine große, bewußte Liebe erzeugen können, das hat meine Beobachtung mir fast zu einem Dogma erhoben.

Einen Eindruck machte mir die Mittheilung meiner Freundin dennoch, so muthwillig wir auch darüber sprachen, und ich konnte mir es nicht erklären, weshalb ich nicht einmal wüßte, wie der junge Mann aussah, der sich freilich mehr zu den Eltern meiner Freundin, als zu uns gehalten, und nur hie und da an unserm Zeitvertreibe Theil genommen hatte. Auch in den folgenden Wochen und Monaten sah ich ihn nur hie und da von fern mit andern jungen Männern, die ich kannte; aber die Neckereien meiner Freundinnen dauerten fort, und ich erfuhr von ihnen, daß Leopold aus dem Harz gebürtigt, daß er der Sohn eines Landpredigers, und daß er ein sehr reiner und idealistischer Charakter sei. Alle seine Studiengenossen schätzten ihn hoch, und ich war ebenso neugierig ihn kennen zu lernen, als beschäftigt und geschmeichelt durch den Gedanken, einem solchen jungen Manne durch ein ganz oberflächiges Begegnen einen so großen Antheil eingeflößt zu haben.[284]

Endlich gegen das Ende des Frühlings machten die Eltern einmal mit uns eine Nachmittagspartie vor das Thor, zu der einige Mädchen meiner Bekanntschaft und mehrere junge Leute eingeladen waren. Die Gegend um Königsberg ist eine Meile im Umkreise sehr flach und sandig. Außer den Dämmen am Pregelufer, die sich bis zum Ausfluß des Pregels in das Haff hinziehen, findet man nur vor dem Steindammer Thor ein etwas gewelltes Terrain, und hie und da, wie in der neuen Bleiche, im Julchenthal und weiter hinaus im Juditherwalde einige Punkte, die freundlich und einladend, und zum Verweilen angethan sind. Wer wie wir nur selten einen Stellwagen benutzen konnte, mußte sich mit diesem bescheidenen Naturgenuß genügen lassen, und glücklicher Weise ist es nicht die Schönheit der Gegend, sondern die Empfänglichkeit des Menschen, durch welche seine Freude an der Natur und der Welt um ihn her bestimmt wird. Das Julchenthal mit seinen schattigen Bäumen, mit dem kleinen Quell im Grunde, mit seinem Finkenschlag und Nachtigallengesang ist mir ebenso lieb und lieber in der Erinnerung, als manche große Scenen der erhabensten Gebirgswelt, die ich später nicht mit dem ruhigen Sinn jener frühen Tage auf mich einwirken zu lassen vermochte.

Mit meinen jungen Freundinnen, mit meinen sämmtlichen Geschwistern, von denen die Jüngsten noch hinausgetragen werden mußten, hatten wir in ländlichen Spielen den Nachmittag heiter verlebt, und uns eben niedergelassen, um das mitgebrachte Abendbrod zu verzehren, als plötzlich Leopold in unserer Nähe erschien, und ein Paar von den jüngern Männern, die mit uns waren,[285] aufstanden, ihn zu begrüßen. Einer derselben, der uns verwandt war, bat meinen Vater, ihm den Angekommenen vorstellen zu dürfen, und gastfreundlich, wie die Mutter war, lud sie ihn ein, an unserm Abendbrode Theil zu nehmen, ohne daß sie freilich wußte, was sie ihm damit gewährte, und was ich dabei empfand. Wie er nicht zufällig, sondern von den andern jungen Leuten benachrichtigt, gekommen war, so machten ihm diese auch an meiner Seite Platz, und ich sah und sprach ihn damit eigentlich zum erstenmale.

Er war sehr groß und schlank, und hatte jene bräunliche, frische Gesichtsfarbe, welche man, trotz ihrer blauen Augen, bei den dunkelhaarigen Harzbewohnern häufig findet. Sein Organ war äußerst wohlklingend, sein Wesen über seine Jahre ernsthaft. Auch überraschte mich in der Befangenheit, die über mich gekommen war, am meisten der Ernst, mit welchem er zu mir sprach, ja er erschreckte mich eigentlich, weil er mir die Freiheit und die Zuversicht benahm, welche ich sonst allen Andern gegenüber empfand. Von der Zuvorkommenheit, von der Galanterie, welche sonst junge Männer einem Mädchen beweisen, dem sie zu gefallen wünschen, war in seinem Betragen keine Spur. Ich wußte ihn mir nicht zu deuten. Als wir dann, weil wir die Kinder mit uns hatten, früh aufbrachen, und durch den schönen Abend in die Stadt zurückkehrten, begleitete er uns, indem er abwechselnd mit mir und mit meinem Vater ging. Und als er vor unserer Thüre um die Erlaubniß nachsuchte, einen Besuch zu machen, wurde ihm dies ohne Weiteres gewährt, weil er in dem Hause eines Mannes Hauslehrer[286] war, den mein Vater schätzte, und der seine Kinder nur einem tüchtigen und verläßlichen Menschen anvertraut haben konnte.

Leopold mußte an dem Abende den ganzen Weg, den er mit uns gemacht hatte, wieder zurück, und noch eine Strecke weiter hinaus in das Land gehen, weil die Familie, in welcher er lebte, im Sommer einen ziemlich entlegenen Landsitz bewohnte, und diese seine Entfernung von der Stadt machte es, daß ich ihn bis zum Herbste nicht häufig sah. Ich hörte aber von den Bekannten um so öfter von ihm sprechen, und traf ich ihn selbst, kam er einmal zu uns, so befragte er mich über Alles, was ich gethan hatte, und über das, was ich trieb und beabsichtigte, als habe er ein Recht dazu. Die weibliche Natur hat aber so sehr den Instinkt ihrer Abhängigkeit von dem Manne, daß sie sich namentlich in der ersten Jugend unwillkürlich Demjenigen zum Eigenthum fühlt, der den Willen hat, sie als sein Eigenthum anzusprechen. Ich wenigstens war von Leopold beherrscht, lange ehe ich es wußte, und wenn ich hie und da mich gegen diese Herrschaft aufzulehnen suchte, so geschah das ebenfalls nur aus dem instinktiven Bedürfniß, meinen Willen nicht völlig zu verlieren, mir selbst nicht ganz und gar verloren zu gehen.

Im Herbste verließen wir unsere Wohnung an dem Pregel, und zogen, weil wir mehr Raum bedurften, da die heranwachsenden Brüder doch auch ein besonderes Zimmer haben mußten, in das Vorderhaus, nach der Langgasse. Es war das auch für meinen Vater viel bequemer, der uns nun aus seinem Comptoir und aus[287] seinen Kellern und Lägern leichter erreichen konnte, und außer dem großen schönen Wolm, dem Balkon vor der Hausthüre, der uns Allen zu statten kam, gewannen ich und meine eilfjährige Schwester damit ein äußerst freundliches, kleines Stübchen im Entresol, eine sogenannte Hangelstube, die ich bis achtzehnhundert fünfundvierzig, bis ein Jahr vor meines Vaters Tode inne hatte, als ich mein Vaterhaus zum letzten Male besuchte und bewohnte.

Diese Hangelstube bildete die Ecke des Eckhauses, in welchem wir nun lebten. Ein Fenster ging in die Seitenstraße hinaus, welche nach dem Pregel hinunterführte, zwei andere lagen an der Frontseite in der Langgasse, und ich konnte mit meinem scharfen Auge die ganze Brodbänkengasse übersehen, bis hin zu dem Domplatz, an dessen Eingang Leopold in der Familie seiner Zöglinge wohnte. Mein Nähtisch stand am Fenster, und alle Mittage, wenn Leopold mit seinen Eleven die lange Brodbänkengasse hinunterkam, um sie spazieren zu führen, sahen und grüßten wir einander. Das war nun für mich der eigentliche Mittelpunkt des Tages.

Er selbst war damals sehr fleißig, seine Freunde sagten, er wolle eilen sein zweites theologisches Examen zu machen. Er selbst sagte Nichts davon. Er kam aber ein paar Male in der Woche zu uns, und war durch seinen reinen Sinn, durch seine Begeisterung für alles Große, durch die kindliche Einfachheit, welche den Ernst und die Strenge seines Charakters milderte, den Eltern und den Geschwistern allen bald eben so werth geworden als mir. An ihm konnte man es erkennen, welches die Frucht jener Studentenverbindung war, die unter dem Namen der deutschen[288] Burschenschaft so schwere Verfolgungen erlitt, und der doch grade die tüchtigsten Charaktere sich angeschlossen hatten. Eine tiefe Liebe für das Vaterland, eine eben so tiefe Hingebung an die im Christenthume enthaltene Menschheitsidee, die strengste Sittenreinheit, eine wahre Heilighaltung des Weibes, ein Gefühl der Brüderlichkeit für die Mitmenschen, waren so fest in sein Herz geprägt, daß Geringes, Leichtfertiges oder gar Unwürdiges ihn nicht berühren konnte. Gut und sanft, wo er vertraute und verehrte, konnte er in die größte Heftigkeit oder in den kältesten Zorn gerathen, wenn Unedles oder Frivolität ihm entgegentraten.

Was ihn auf mich aufmerksam gemacht, was ihn so plötzlich an mich gekettet hatte, ist mir in spätern Jahren oft selbst ein Räthsel gewesen. Ich vermuthe, daß es ganz allein mein Aeußeres war; denn von den Eigenschaften, welche er in dem Weibe suchte, besaß ich an dem Tage, an welchem ich ihn kennen lernte, wirklich so gut wie Nichts. Ich war in hohem Grade auf äußerlichen Erfolg gestellt, hatte ein großes Verlangen nach einem geräuschvollen Leben in der Welt, und ein Ball mit recht brillanten Tänzern spielte damals in meinen Phantasien eine ganz andere Rolle, als das zurückgezogene Leben in einer einsamen Landpfarre. Ich verstand eine Liebe, wie sie mir zu Theil wurde, kaum zu schätzen, und ich habe sie Anfangs gewiß nicht verdient.

Indeß eben diese Liebe, eben dieser Glaube an mich, erhoben mich allmählich; und was die, Jahre hindurch fortgesetzte Bemühung meines Vaters doch nicht in dem nöthigen Maaße erreicht hatte, mir – abgesehen von[289] der Entwicklung des Verstandes – einen wahrhaft sittlichen innern Halt und meinem Gemüthsleben die rechte Entfaltung zu geben, das vollbrachte die vertrauende Liebe eines reinen Männerherzens in sehr kurzer Zeit. Wie das geschah? Wer könnte das sagen! – Alles Werden ist und bleibt ein Mysterium selbst da, wo man den Prozeß verfolgen kann, durch den es sich vollzieht. Wie sollte man es vermögen, den leisen Wandlungen mit beobachtendem Blicke zu folgen, die sich in unserm Herzen vollziehen, wenn die männliche Liebe es aus der Selbstsucht der Kindheit für die Hingebung an den Mann zu befreien beginnt?

Wir sahen einander niemals allein. Wir hatten einander auch Nichts zu sagen, was nicht alle Uebrigen hätten hören können. Leopold tadelte mich, wenn ich Freude an Heine's kecken und leichtfertigen Schriften, oder an französischen Romanen zeigte, die seinem reiferen und edlern Sinne widerstanden, ebenso tadelte er meine leidenschaftliche Lust am Tanze, weil er selbst den Tanz nicht liebte. Er erzählte von dem Pfarrhause seines Vaters im Harz, er schilderte mir mit großer Wärme das Leben in schöner Natur, er sprach von seinen Eltern, die er verehrte, von seinen Brüdern, die alle älter waren als er, von dem Wunsche seines Vaters, ihn zum Nachfolger zu haben, von der ganzen häuslichen Einrichtung seines Vaterhauses, ja selbst von den beiden weißen Spitzhunden, welche seines Vaters Haus bewachten; und wenn ich dann sagte, daß ich Hunde nicht möge, und Spitze vollends nicht, weil sie so schrecklich kläfften und gleich die Zähne wiesen, so tröstete er mich damit, daß sie klug wären,[290] und sehr freundlich zu Allen, die zum Hause gehörten, und das beruhigte mich nicht nur, sondern es machte mich glücklich – weil er mich damit als zu seines Vaters Hause gehörend betrachtete.

Allmählich gewann Leopold die ganze Leitung meiner Lektüre, und das war ein großer Vortheil für mich. Sie wurde nicht ernster dadurch, denn ernste Sachen hatte mein Vater mir selbst gegeben, aber sie wurde einem jungen Mädchen angemessener. Ich hatte immer eine große Vorliebe für Körner's Leier und Schwert und für sein Heldendrama Zriny gehabt, die man mir auch früh geschenkt hatte. Nun lernte ich Körner in seinen Liebesgedichten kennen, und die Ideen der Liebe und des deutschen Vaterlandes begannen sich in mir zusammenzuschmelzen, wie sie in Körner verschmolzen gewesen waren, wie sie in Leopold's Herzen als Eines lebten. Bis dahin hatte ich gewußt, daß Tugend, daß Sittlichkeit recht und nothwendig wären. Jetzt fing ich an zu empfinden, daß sie schön und heilig seien, und die Erinnerung an die Freiheitskämpfe des Vaterlandes, die mir sonst nur als große, heldenhafte, historische Momente vorgeschwebt, und in denen die Gestalt Napoleon's immer, gleichviel ob siegreich oder besiegt, den Mittelpunkt für meine Theilnahme gebildet hatten, gewannen für mich eine neue Bedeutung, eine versittlichende und erhebende Kraft, weil ich sie als die Erhebung eines ganzen Volkes gegen eine entsittlichende Tyrannei zu erkennen begann. Mein Gemeingefühl für ein einiges deutsches Vaterland danke ich jenen Tagen der ersten Jugendliebe.

Statt Rosaliens Nachlaß, der meine thörichten Tagebuchblätter[291] hervorgerufen hatte, las ich das Leben der Pfarrerin von Meinau und ähnliche Schriften, und es kam mir vor, als wachse ich unter seinen Augen, wenn Leopold mir deutlich machte, welch einen weithinreichenden und fortzeugenden Wirkungskreis eine Frau innerhalb einer kleinen Dorfgemeinde, innerhalb der Grenzen ihres Hauses und ihrer Familie gewinnen könne. Er verlachte mich, wenn ich ihm erzählte, welch ein Streben nach Gelehrsamkeit ich in meiner Kindheit gehabt, und weil er mir zutraute, daß ich Alles das sei oder doch werden könne, was seine idealistische Liebe in mir erblickte, machte er mich ihm gegenüber sehr demüthig, während er mich förderte und erhob. Es waren schöne Tage![292]

Quelle:
Fanny Lewald: Gesammelte Werke. Band 1, Berlin 1871, S. 281-293.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Meine Lebensgeschichte
Meine Lebensgeschichte (1; V. 3); Von Fanny Lewald
Meine Lebensgeschichte (2-3); Von Fanny Lewald
Meine Lebensgeschichte (1)

Buchempfehlung

Chamisso, Adelbert von

Peter Schlemihls wundersame Geschichte

Peter Schlemihls wundersame Geschichte

In elf Briefen erzählt Peter Schlemihl die wundersame Geschichte wie er einem Mann begegnet, der ihm für viel Geld seinen Schatten abkauft. Erst als es zu spät ist, bemerkt Peter wie wichtig ihm der nutzlos geglaubte Schatten in der Gesellschaft ist. Er verliert sein Ansehen und seine Liebe trotz seines vielen Geldes. Doch Fortuna wendet sich ihm wieder zu.

56 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon